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Nicht das Rohe, sondern das Gekochte zähle

Der Sammelband »Sprachen der Wahrheit« vereint Essays von Salman Rushdie, in denen er Einblicke in sein Denken und Wirken gibt

  • Alfons Huckebrink
  • Lesedauer: 5 Min.

»Ich wuchs in einer Stadt auf, die die Briten auf indischem Boden erbaut hatten, die ein Gemisch aus Ost und West war, und diese Mischung hat für immer meine Sicht auf die Welt geprägt«, schreibt Salman Rushdie.

Er weiß: Literatur kann gefährliches Terrain werden. Name und Werk des 1947 in Mumbai - damals Bombay - geborenen Schriftstellers werden stets verbunden sein mit dem Roman »Die satanischen Verse«, und der gegen ihn verhängten Fatwa (1989) gottesfürchtiger Ajatollahs. Ein teuflischer Mechanismus: »Der Angriff auf das Werk bewirkt mehr, als das Werk zu definieren; in gewissem Sinne wird der Angriff für die breite Öffentlichkeit das Werk.«

Ein Angriff, der mit Aussetzung eines Kopfgelds nicht nur auf die Person Rushdies zielte, sondern auch auf Verleger, Übersetzer und Buchhändler - und mehrere von ihnen zum Opfer von Mordanschlägen machte. Steht jemand solche Bedrohungen mit Bravour durch, erwächst ihm mitunter eine moralisch grundierte Autorität, für deren schriftliche Verlautbarungen der Essay die geeignete Form bieten mag.

Entscheidend ist dieser Erzählgestus: das Erzählen des Denkens. Eine generöse Gattung, die ihrem Autor viele Freiheiten in der Kunst einräumt, den eigenen Maßstab zu kalibrieren und einzuhalten. Genau daraus erwächst ihm Gefahr. Kurz, was als Essay gedruckt wird, ist viel zu oft seichtes Geplauder, nebulöses Geraune. Davon kann sich die vorliegende Sammlung »Sprachen der Wahrheit« (2003-2020) nicht völlig freimachen. Sie enthält Wiederabdrucke aus Feuilletons, Nachrufe, vor Universitätsabsolventen gehaltene Reden - ein Format, das seinen Autor schnell die Grenze zum hohlen Pathos überschreiten lässt; wenngleich Rushdie dezidiert betont, kein Text der Sammlung sei unbearbeitet. Zumindest beim Proust-Fragebogen aus »Vanity Fair« scheinen Zweifel angebracht.

»Ich bin sehr dafür, sich weiterhin Dinge auszudenken.« Gleich zu Beginn offeriert Rushdie mit »Wundersame Geschichten« einen Beitrag, der eines seiner Grundanliegen in den Blick rückt. Mit dem Rekurs auf die Märchen aus »Tausendundeine Nacht« plädiert er für eine traditionelle Fiktionalisierung des Erzählens und damit für eine Art Osterweiterung, die der westlich erzeugten Literatur mit ihrer autobiografischen Obsession - zu der er mit dem fulminanten Rückblick »Joseph Anton« (2012) selbst beitrug -, eines irgendwie authentisch ›faktischen‹ Kerns (truthiness) abhandengekommen sei. Nicht das Rohe, sondern das Gekochte zähle, beruft sich Rushdie auf Claude Lévi-Strauss. Zugleich preist er die areligiöse Verfasstheit der »Märchen«. Dafür »viel Sex, viel Ausgelassenheit, eine Menge Unaufrichtigkeit …« Was die Sammlung »Tausendundeine Nacht« bis heute Anfeindungen aussetzt. Im Mai 2010 initiierten islamische Juristen in Ägypten eine Verbotskampagne gegen ihre Neuausgabe.

Ersetzt man ›wundersam‹ durch das Attribut ›magisch‹, wird aus der Ost- rasch eine Westerweiterung, schlägt sich eine Brücke zum magischen Realismus Lateinamerikas, dessen surrealistischer Bildfülle sich Rushdie verwandt fühlt. Gabriel García Márquez hat er nie kennengelernt, aber in der Hommage »Mein Freund Gabo« unterstreicht er dessen Einfluss auf ihn und schildert, wie Carlos Fuentes ihm einmal in Mexico City eine Verbindung nach Havanna herstellt und Márquez aus einem Besuch bei Fidel Castro an den Apparat holt. Die beiden führen ein langes Gespräch, unter anderem über eine Abendeinladung Rushdies im Hause Daniel Ortegas. Ein hübsches Beispiel für sein anekdotisches Talent.

Der Essayist moniert mit Recht eine Überbetonung des Magischen in der westlichen Rezeption. »Wäre aber der magische Realismus bloß magisch, hätte er keine Bedeutung.« Es handele sich nicht um Fantasy, sondern genuin um einen Realismus, der sich durch übernatürliche Elemente der Darstellung neue Dimensionen der Wahrheit eröffne, die in einer »Phase des historischen Übergangs« überlebensnotwendig seien. Realismus sei deshalb nicht so sehr eine Frage der Technik, sondern eine Frage der Absicht.

»Sprachen der Wahrheit?« Bereits vor der Lektüre der Essays beruhigte mich die Pluralform des Titels, der mich an die bekannte Maxime des Theatermannes Peter Brook erinnerte, der zufolge »alles eine Sprache für etwas und nichts eine Sprache für alles ist«. Einige Wahrheiten nutzen sich hingegen ab, werden missbraucht oder umgedeutet. Die Titelformulierung stammt aus »Wahrheit«, einem wichtigen Text angesichts der vom 45. Präsidenten der USA - sein Herrschaftsbereich hier durchgängig als Trumpistan bezeichnet - hinterlassenen Beschädigungen. »Wir leben in einer Zeit, die das Unterste nach oben kehrt. Die Verrückten leiten die Anstalt«, schreibt Rushdie. Umso wichtiger wird das Bemühen des Schriftstellers, eine so wahrheitsgetreue und aufrichtige Antwort auf die Welt zu finden, »wie er nur kann«.

Die Sammlung diskutiert ernsthafte Fragestellungen und entzückt unter anderem durch Rushdies Vorliebe für kurze prägnante Formulierungen: »Das Verlangen der Amerikaner nach schlechter Fiktion scheint grenzenlos zu sein.« Oder: »Widerspruch ist unser Lebenssaft.«

Die Osterweiterung der Literatur - übertragen in die eurozentrische Metapher vom Nord-Süd-Gefälle müsste man wohl von einer Süderweiterung sprechen - ist wünschenswert, wird im Buch aber lediglich verkündet. Rushdie stammt aus einer wohlhabenden Unternehmerfamilie, ging 1961 ins Internat nach England, lebt seit 2000 vorwiegend in New York. Zwar proklamiert er vehement die Öffnung der Literatur für die Erfahrungen von Rassismus und Migration und verweist auf den Beitrag von Junot Díaz, Yiyun Li, Jhumpa Lahiri, Jesmyn Wards und einigen anderen zum nordamerikanischen Kanon.

Er selbst artikuliert freilich nicht im Gestus des Davongekommenen, sondern des Angekommenen. Eine Feststellung, kein Vorwurf. Er schreibt mutig, besonders in seinem bekennenden Atheismus - und kann austeilen. »Gott lebt und somit leider auch die Gottesfürchtigen.« In einer Reflexion über die eigene Covid-Erkrankung klagt er: »Teil unserer Tragödie ist, dass wir in dieser Zeit der Krise in vielen Ländern, darunter auch in allen dreien, die mir in meinem Leben am wichtigsten sind [gemeint sind Indien, Großbritannien und USA], mit Staatschefs von beträchtlichem Zynismus und dreister Arglist gestraft sind.« Wohltuend hier auch der präzise Rückblick auf Susan Sontags Essay »Krankheit als Metapher«, deren Position, diese nicht mit einer höheren Bedeutung aufzuladen, er sich zu eigen macht. »Ich konnte unser dringendes Bedürfnis, aus dem Schlechten müsse etwas Gutes hervorgehen, nur seltsam finden.«

Rushdie hat viel gelesen, kennt eine Menge bedeutender Leute. Auf die Frage von »Vanity Fair«, welche seiner Neigungen er bedauere, antwortet er: Redseligkeit. Der scheint er auch in den Essays nachgegeben zu haben. Im Deutschen enthält der Begriff den Wortteil Seligkeit. Schön, wenn sie sich bei Autor und Leser gleichermaßen einstellt.

Salman Rushdie: Sprachen der Wahrheit: Texte 2003-2020. C. Bertelsmann, 480 S., geb., 26 €.

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