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Die heimliche Ordnung der Jahrmärkte

Der Theaterregisseur Alexander Lang wird 80 Jahre alt

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 6 Min.

Theater lebt von der Erinnerung derer, die dabei waren. Darin liegt sein unwiederholbarer Eros. Was also bleibt? Das sichere Wissen, dass nach bestimmten Eindrücken das Leben anders verlief. Viele Details verschwimmen mit den Jahren und Jahrzehnten, doch solcherart Erschütterung bleibt.

So ging es mir, als ich Mitte der 80er Jahre als Philosophiestudent nach Berlin kam. Meine eigentliche Universität aber war das Deutsche Theater! Alexander Langs Inszenierung von Büchners »Dantons Tod« von 1981 hatte nicht nur die Theaterwelt auf den Kopf gestellt, sondern auch die marxistische Lesart der Revolution. Plötzlich grätschte Adorno mit seiner negativen Dialektik in einen Geschichtsoptimismus, an den ohnehin niemand mehr glaubte. Oder stärker noch: Der französische Existenzialismus brach mit seiner Kategorie des Absurden in den längst museal gewordenen sozialistischen Realismus ein, wie ein nächtlicher Einbrecher, der weiß, zu stehlen gibt es hinter den verschlossenen Türen eigentlich nichts. Doch welch unvergleichliche Lust, sie zu öffnen!

Alexander Lang hatte ich das erste Mal in einer Fotoserie im »Magazin« aus den 70er Jahren gesehen. Irgendwie schlaksig in seiner Größe, nach vorn gebeugt wie einer, der gegen den Wind zu laufen gewohnt ist. Dazu stand, dieser junge Mann sei eine Hoffnung des Theaters in der DDR. Das »Magazin« irrte nicht: Lang verstand es, Intelligenz und Aberwitz auf eine Weise zu verbinden, die unbeirrt die Nischen umschiffte und den Olymp selbst, das Staatstheater der DDR, ins Visier nahm. Dieser Perfektionist liebte die heimliche Ordnung der Jahrmärkte!

Die Begegnung mit Alexander Lang als Regisseur wurde zur Sternstunde für Christian Grashof als dem Lang-Schauspieler schlechthin. In seiner Doppelrolle als Danton und Robespierre in »Dantons Tod« verkörperte er Tragödie und Komödie der Revolution - am Ende wird eines zum Spiegel des anderen. Kurt Böwe und Dietrich Körner waren als die ewigen Bürger in den von Bühnenbildner Volker Pfüller gebauten engen Guckkasten gesperrt, drohten ihn gar mit ihrer Korpulenz zu sprengen. Wolfgang Utzt schuf die Masken - das waren über viele Jahre die Koordinaten eines Theaters, das es mit der Welt aufnahm.

Lang wusste: Erhitzung durch politische Tat fordert ein Ventil - und so sieht der Umsturz am Ende die Köpfmaschine Guillotins als Hauptdarsteller. Absurderweise hatte eines ihrer prominentesten Opfer, König Ludwig XVI., der ein technisches Talent besaß, deren Pläne noch eigenhändig verbessert: Eine gebogene Klinge, befand er, sei besser als eine gerade. Wenn das nicht blutige Ironie ist!

Für solche Dinge besitzt Alexander Lang einen untrüglichen Instinkt: Die Akteure der Geschichte arbeiten mit an der Vervollkommnung jener Mittel, die ihre eigene Abschaffung herbeiführen werden. Sprich, jede Revolution trägt die Konterrevolution schon in sich. Lang schaut immer auf beides. Nach »Dantons Tod« kam 1983 Christoph Heins »Die wahre Geschichte des Ah Q«: Beckett in Gestalt eines chinesisch anmutenden Parabelwerks, das Lang zum Endspiel der DDR machte. Dann 1986 ein mutiger Zugriff auf gleich drei Stücke, die es zu erlösen galt von aller gemäßigten Lesart: »Die Trilogie der Leidenschaften«, bestehend aus Grabbes »Herzog Theodor von Gothland«, Goethes »Stella« und Strindbergs »Totentanz«.

Wenn ich die Augen schließe, sehe ich Grashof als irre gewordenen Gothland mit einem riesigen über den Kopf geschwungenen Schwert über die Bühne rasen. Er hörte gar nicht mehr auf zu brüllen. Auch dies eines jener grausamen Machtmärchen, in denen das Unbewusste im Einzelnen wie in der Geschichte aufersteht. Ernste Totentänze, aber nicht ohne tieferen Witz!

Dann war Alexander Lang plötzlich weg, der große Erfolg hatte sich herumgesprochen, es gab Angebote von überall, auch aus dem Westen. Am Deutschen Theater in Berlin aber hatte er mit Friedo Solter, Rolf Winkelgrund und Thomas Langhoff starke Gegenspieler, die seinen Wirkungsraum begrenzten. Lang wollte sich nicht im Theaterbetrieb aufreiben lassen und ging, erst als Regisseur nach München, dann als Schauspieldirektor nach Hamburg, schließlich als Oberspielleiter ans Westberliner Schiller Theater: ein Theater das 1993 die Vereinigung seine Existenz kostete (meines Wissens das einzige Wendeopfer West).

Die Zeit am Schiller Theater wurde keine Erfolgsgeschichte, auch wenn seine »Räuber«-Inszenierung von 1990 den Nerv der Wende haargenau traf - nur wollte das im Westen Berlins damals keiner so genau wissen. Legendär wurde Langs Ära dennoch, als er den uralten Bernhard Minetti auf die Bühne setzte und ihn Grimms Märchen sprechen ließ. In den 90er Jahren wieder am Deutschen Theater gelangen ihm einige starke Inszenierungen, so 2000 »Voltaire Rousseau« - ein Duell Grashof (als hyperintellektueller Voltaire) gegen Lang (als pennerhafter Rousseau). Ausgang unentschieden.

Zurück zu den Anfängen. Seit 1969 war der in Erfurt geborene Lang als Schauspieler am Deutschen Theater engagiert. Ein starker Spieler in einem starken Ensemble. Nach einigen Jahren begann er selbst zu inszenieren - und das erfolgreich. So war es kein Zufall, dass man auf ihn kam, als 1977 Heiner Müllers »Philoktet«-Inszenierung havarierte. Niemand traute sich zu, diese Arbeit zu übernehmen. Da beschlossen Christian Grashof und Roman Kaminski, dass sie es mit Lang zusammen herausbringen wollten: ein legendärer Abend, die eigentliche Geburtsstunde des Lang-Theaters.

Wer wissen will, was sein Theater damals ausmachte, der kann inzwischen auf zwei DVDs zurückgreifen: »Die traurige Geschichte von Friedrich dem Großen« nach Heinrich Mann und Brechts »Die Rundköpfe und die Spitzköpfe«, beides Mitschnitte des DDR-Fernsehens, letzterer soeben erschienen. Lang als Brecht-Regisseur? Ja, aber über den Umweg Federico Fellini. Die Spitzköpfe sind an allem Unglück schuld, vernichtet sie! Das hier ist, als wäre Shakespeare im Puppentheater wieder auferstanden - grandios zur Kenntlichkeit verkleinert. Dietrich Körner als Demagoge Angelo Iberin: ein Radfahrer mit Trillerpfeife im Mund, die Marionette des Vizekönigs (Reimar Johannes Baur), um die Salzsteuer durchzusetzen. Denn der Staat zerfällt, und man meint zu wissen, was die Lösung ist: »Ein starker Mann muss her!«

Aber Lang hatte offensichtlich keine Lust auf jenen epigonalen Brecht, wie er zeitgleich im Berliner Ensemble gespielt wurde: Er jagt das Personal immer im Kreis, als wäre dies ein Sportstück von Elfriede Jelinek. Die Lehrsätze zerfallen zu Staub, und etwas anderes ersteht auf: Die plötzlich ernst genommene Frage, ob der Regen nicht doch einmal von unten nach oben fallen könnte - und nichts anderes ist Revolution. Hier müssen die artistischen Sprecher am Deutschen Theater von Anfang bis Ende auf Sächsisch nuscheln oder haben andere Sprachfehler. Lang findet Wahrheitskerne noch im schmutzigsten Kalauer.

Während der Intendanz Volker Hesses gehörte Lang zum Gorki Theater in Berlin. Er inszenierte 2005 »Das Wundermädchen von Berlin«, ein unheimliches Großstadtmärchen, auch Gorkis »Nachtasyl« und Kleists »Der zerbrochene Krug« (Innenansichten des menschlichen Bestiariums), agierte als Schauspieler mit grandioser Wucht in Hauptmanns »Vor Sonnenuntergang« als alternder Mann, der sich neu verliebt und seine Erben gegen sich aufbringt. Seine (vorerst) letzte Regiearbeit war 2015 an der Berliner Schauspielschule Ernst Busch Shakespeares »Was ihr wollt«. Ein echter Lang, der die Komik immer dort sucht, wo sie kein anderer findet - im Schmerz. Dann fesselte ihn eine schwere Krankheit, die zur Amputation beider Beine führte, an den Rollstuhl.

Dennoch, im vergangenen Jahr erlebte ich Alexander Lang in der Berliner Akademie der Künste, als er den Konrad-Wolf-Preis bekam - er war 1980 in »Solo Sunny« neben Renate Krößner die Hauptfigur. Ein Philosoph, der nicht mithandeln, nur nachdenken will. Lang selbst ist anders: Er hat seine besten Ideen immer, wenn er spielt.

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