Faktor 4

Jeja nervt: Gilt für Corona jetzt etwa YOLO?

  • Jeja Klein
  • Lesedauer: 3 Min.

Jede Menge neue Videospiele, reparierte Controller und ein dicker Fantasy-Roman: So sieht meine Vorbereitung für den zweiten Teil der vierten Welle aus. Und bei Ihnen? Falls Sie in einem Alten- oder Pflegeheim leben, bleibt Ihnen durch die nötige verschärfte Isolierung wohl weniger Zeit, sich zu rüsten, als uns hier draußen. Dadurch, dass die meisten von uns bereits dreieinhalb Wellen ohne Infektion überstanden und sich zweimal impfen lassen haben, ist unser Bewusstsein für die Gefährlichkeit der nächsten Wochen gesunken.

Die Zahlen und Daten rechtfertigen diesen eigentümlichen Optimismus natürlich nicht, aber bei uns gilt in Bezug auf Corona, was bei Erstwähler*innen in Bezug auf die Wahl der FDP galt: »YOLO!« (you only live once). Das Ziel der Impfkampagne, eine zweite Wintersaison mit einem Virus außer Kontrolle zu verhindern, ist krachend gescheitert. Gut möglich sind erneute Lockdowns. Für alle.

Jeja nervt
Jeja Klein ist eine dieser Gender-Personen aus dem Internet und nörgelt einmal die Woche an Kultur und Politik herum.

Heute nerve ich Sie also schon wieder mit dem Coronavirus. Warum?

Statt aus Erfahrungen schlauer zu werden, funktionieren unsere Warnsysteme und Mechanismen zur Regulierung von Maßnahmen noch uneinheitlicher und unsensibler als vor einem Jahr. Da ist zunächst die Abschaffung der Bundesnotbremse im Sommer und die Umstellung des Hauptindikators für die Pandemiedynamik auf die Hospitalisierungsrate.

Nur: Für die Erfassung und Verarbeitung dieser Rate ist überhaupt nicht ausreichend Personal vorhanden. Es dauert gegenwärtig etwa 21 Tage, bis 95 Prozent der Hospitalisierungen tatsächlich in die Statistik nachgemeldet sind. Der offizielle Hospitalisierungswert von heute liegt mutmaßlich 50 Prozent niedriger als die tatsächlich belegten Betten. Als wäre das nicht schon besorgniserregend genug, dürfte diese Diskrepanz noch steigen. Im Juni lag das Verhältnis noch bei zwei zeitnah erfassten Hospitalisierungen auf drei tatsächliche Krankenhausaufnahmen. Am 6. September, dem letzten Maximum in der Inzidenzkurve, lag die Diskrepanz schon bei 45 Prozent. In drei Wochen wissen wir mehr – wenn die 3-Wochen-Regel dann noch stimmte.

Stellen Sie sich vor, dass Ihre Alarmanlage beim Einbruch in Ihre Wohnung sieben Minuten zu spät losgegangen ist. In Ihrer emotionalen Auflösung hat Ihnen dann noch ein gewiefter Vertreter am Telefon ein neues Produkt mit über 21 Minuten Melde-Verzögerung aufgeschwatzt. Klar, inzwischen ist bei Ihnen zuhause weniger zu holen. Wenn Sie aber deshalb wieder in Ruhe einschlafen können, ist es, als seien Sie Opfer eines Enkeltricks geworden. Am anderen Ende der Leitung saß die Bundesregierung. .

Schnell- und Selbsttests gab es vor einem Jahr noch nicht. Gut möglich, dass wir uns mehr als damals in Innenräumen mit anderen treffen und Geimpfte das Virus symptomlos umhertragen. Die erste für den Pandemieverlauf relevante Mutation, die Alpha-Variante, wurde in Deutschland erstmals Weihnachten 2020 nachgewiesen.

In der Folge wurde sie mit ihrer Eigenart, für 30 Prozent mehr Ansteckungen zu sorgen, dominant. Seit Ende Juni dominiert nun die Delta-Variante, die noch einmal ganze 50 Prozent draufschlägt. Alles in allem haben wir es also mit einem vielleicht doppelt so ansteckenden Virus zu tun, das auf mehr als 25 Millionen ungeimpfte Menschen trifft und sich beim Rest symptomlos ausbreitet.

Erinnern Sie sich an die Fahrschule: Wenn Sie doppelt so schnell fahren, um welchen Faktor steigt dann der Bremsweg? Sie können diesen Faktor 4 gerne mit dem Viertel Ungeimpften verrechnen - und Sie kriegen einen Corona-Winter. Besser also, Sie fahren langsamer. Und richten sich schon mal auf die kommende Vollbremsung ein.

Abonniere das »nd«
Linkssein ist kompliziert.
Wir behalten den Überblick!

Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal