Der übermächtige Gegner

Mietende von Gewerberäumen leben prekär - nun starten sie eine Kampagne

  • Louisa Theresa Braun
  • Lesedauer: 5 Min.
Die Bewohner*innen der H48 auf einer Mietendemo im Mai am Potsdamer Platz
Die Bewohner*innen der H48 auf einer Mietendemo im Mai am Potsdamer Platz

Dutzende Paar Schuhe stehen ordentlich aufgereiht in dem langen Flur Spalier. Er führt in einen riesigen, türkis gestrichenen Gemeinschaftsraum voller Grünpflanzen, mit großer Küche und Theke. Obst liegt auf dem runden Esstisch und Kaffeeduft in der Luft. Eine ganz normale Wohngemeinschaft, könnte man meinen - nur dass es sich offiziell gar nicht um Wohn-, sondern um Gewerberäume handelt.

»Seit 1982 gibt es diese WG, die von den damaligen Bewohner*innen selbst ausgebaut wurde«, erklärt Martin, der seit sechs Jahren hier lebt, zusammen mit sieben Mitbewohner*innen. Alle Mieter*innen der acht Wohngemeinschaften im Fabrikgebäude der Hermannstraße 48 in Neukölln haben nur Gewerbemietverträge. »Das ist eine sehr prekäre Situation, auch weil das Vorkaufsrecht nur für Wohnraum gilt«, sagt Ari, die selbst lange in einer der WGs gelebt und nun eine eigene Wohnung im Nachbarhaus hat, das unbestritten als Wohnraum gilt.

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Zurzeit befindet sich jedoch der gesamte H48 genannte Wohn- und Fabrikgebäudekomplex in einer unsicheren Lage und ist Gegenstand eines Rechtsstreits um das Vorkaufsrecht. Ende 2020 wollte ihn die private Eigentümerin an eine eigens dafür gegründete Grundbesitzgesellschaft verkaufen. Die 140 Bewohner*innen, die Mietpreiserhöhungen und Kündigungen fürchteten, gründeten mit Hilfe des Mietshäusersyndikats eine eigene GmbH, die Hermanes 48, zu deren Gunsten der Bezirk Neukölln im Februar das Vorkaufsrecht ausübte.

Im Milieuschutzgebiet, in dem auch die H48 liegt, muss der Bezirk dafür sorgen, dass Wohnraum nur gemeinwohlorientiert verkauft wird und dafür gegebenenfalls Drittkäufer finden, häufig Genossenschaften oder landeseigene Wohnungsbaugesellschaften. »Wir prüfen potenzielle Drittkäufer sehr genau auf ihre wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und auf den Willen, das Gebäude im Sinne des Milieuschutzes zu verwalten. Das haben die Bewohner*innen bestanden«, erklärt Neuköllns Bezirksstadtrat Jochen Biedermann (Grüne), der in engem Kontakt mit den Mieter*innen steht. Den Kaufpreis hätten sie über einen Bankkredit stemmen können.

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Doch Käuferin und Verkäuferin legten gegen den Vorkauf Widerspruch ein, den der Bezirk ablehnte, woraufhin beide seit Anfang September vor dem Berliner Verwaltungsgericht gegen den Bezirk Neukölln klagen. »Das kann jetzt Jahre dauern«, fürchtet Ari, was Stadtentwicklungsstadtrat Biedermann bestätigt. So ziehe sich der Rechtsstreit um den Vorkauf der Sanderstraße 11 seit 2018 hin. Für eine Klage gegen den Vorkauf von Gewerberäumen, in denen auf dem Papier also gar nicht gewohnt werde, gebe es bislang jedoch keinen Präzedenzfall. »Für uns ist klar, dass hier Wohnen stattfindet, aber das wird von der Gegenseite anders gesehen«, sagt Biedermann - obwohl die Vermieterin der Bewohnung explizit zugestimmt hat. Auch eine Infotafel zum historischen Hermannshof an der Straße weist auf die WGs im Fabrikgebäude hin.

Während des Rechtsstreits bleibt die H48 im Besitz der bisherigen Eigentümerin, unter der sich vor allem die Situation der Mieter*innen im Fabrikgebäude kaum verbessern werde, da sie keinen Kündigungsschutz genießen. Zwei Wohngemeinschaften hatte die Eigentümerin bereits Anfang des Jahres gekündigt - seitdem stehen sie leer. Nun hat die H48 mit sechs anderen Häusern in Neukölln, Kreuzberg und Wedding die Kampagne »Wohnfabrik« gestartet, um darauf aufmerksam zu machen, wie viele Mieter*innen in Berlin nur Gewerbemietverträge haben und somit in einem prekären rechtlichen Graubereich leben, in dem zum Beispiel auch die Mietpreisbremse nicht gilt. »Gerade in Neukölln ist das kein Einzelfall«, sagt Jochen Biedermann, der die Kampagne begrüßt.

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In den 1980er und 1990er Jahren seien viele Fabrikgebäude in Berlin zu Wohnungen ausgebaut und baurechtlich häufig nie umgenutzt worden. »Wir kämpfen darum, dass diese WGs bleiben können, weil hier alternative Wohnformen einer großen Anzahl Menschen möglich sind, die es auf dem Berliner Wohnungsmarkt sonst gar nicht mehr gibt«, sagt Ari. In der H48 herrsche nicht die typische Großstadt-Anonymität, »sondern wir sind wie ein kleines Dorf, unterstützen uns gegenseitig, machen Spieleabende zusammen. Für mich stellt das auch ein politisches Ideal dar, wie eine Gesellschaft aufgebaut werden könnte«, sagt Martin.

Sowohl die beiden Mieter*innen als auch Stadtrat Biedermann sind überzeugt, dass der Vorkauf zugunsten der Hermanes 48 rechtens ist, trotzdem hat Ari »das Gefühl eines übermächtigen Gegners: eines Systems, das Privateigentum statt Menschen« schütze. »Das wird sich mit Franziska Giffey als Regierender Bürgermeisterin sicher nicht ändern.« Biedermann, der sich seit 2016 als Stadtrat für den Milieuschutz in Neukölln stark macht und in über 20 Fällen erfolgreich das Vorkaufsrecht durchgesetzt hat, hofft auf eine »progressive Regierung in Berlin, die Wert auf den Schutz von Mietverträgen« lege. »Wir brauchen eine klare Begrenzung der Renditeträume von Immobilienkäufern.« Seiner Ansicht nach sollten Häuser in Milieuschutzgebieten gar nicht mehr ohne Abwendungsvereinbarung verkauft werden und städtische Wohnungsbaugesellschaften mehr Zuschüsse für Vorkäufe erhalten. Von der nächsten Bundesregierung wünscht er sich eine Öffnungsklausel, durch die der Mietendeckel rechtssicher wieder eingeführt werden könnte. Mit Blick auf die Hermannstraße 48 zeigt Biedermann sich aber »zuversichtlich, weil wir nach intensiver Prüfung gute Argumente für den Vorkauf haben«. Für die Bewohner*innen der H48 heißt es nun abwarten - und darauf hoffen, dass ihre Vermieterin in der Zeit keine weiteren Kündigungsgründe geltend machen will.

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