Ab heute bist du Sheriff

Bei diesem Krimi ist das Verbrechen gar nicht so wichtig, denkt man: »Sarah Jane« von James Sallis

  • Florian Schmid
  • Lesedauer: 3 Min.

James Sallis ist für Freunde des literarisch anspruchsvollen Noir-Krimis schon lange so etwas wie eine Institution. Seit die Verfilmung (2011) seines Romans »Drive« (2005), unter anderem mit Ryan Gosling, einen gewissen Kultstatus erlangte, ist Sallis auch mehr und mehr einem breiteren Publikum bekannt, wobei seine in konziser und minimalistischer Prosa gehaltenen Romane keine Bestseller werden.

Die Kriminalgeschichten stehen in seinen Büchern auch gar nicht so sehr im Vordergrund. Der 1944 geborene Autor aus Phoenix (Arizona) entwirft komplexe soziale Sujets der amerikanischen Wirklichkeit, die weder besonders hip sind noch irgendeinem popkulturellen Kanon angehören. Sallis schreibt vielmehr über die sozialen Ränder der Gesellschaft und taucht in die proletarische und kleinbürgerliche Kleinstadtseele der USA ein, zumeist gelegen im Nirgendwo des südlichen Mittleren Westens. So auch in seinem neuen Roman »Sarah Jane«, in dessen Zentrum diesmal eine Frau steht, die als Sheriff mit kleinen und großen Verbrechen, vor allem aber mit jeder Menge Alltag konfrontiert wird.

Sarah Jane kommt aus einfachen Verhältnissen, laut ihrem Vater »aus einer guten Hillbilly-Familie«, in der niemand die Polizei ruft. Sie ist Irak-Kriegs-Veteranin, lebte zeitweise in einer sektenartigen Kommune, studierte einige Semester Literatur, war Köchin in einfachen Restaurants, Hilfskraft in sozialen Einrichtungen, führte diverse Beziehungen, die schiefgingen, und verlor ein Neugeborenes.

James Sallis lässt Sarah Jane ihre Geschichte selbst erzählen - im Hintergrund dieser Lebensbeichte scheint immer wieder so etwas wie ein Verbrechen auf, von dem aber lange Zeit nicht klar ist, worum es dabei geht. Irgendwann landet Sarah Jane in der Kleinstadt Farr im südlichen Mittleren Westen, wo sie Sheriff wird. Der bisherige Sheriff Cal, der sie anlernt und mit dem sie bald eine Freundschaft verbindet, verschwindet irgendwann unter mysteriösen Umständen. Sarah Jane beginnt daraufhin in Cals Vergangenheit herumzustöbern. Auch er ist Kriegsveteran und scheint einiges auf dem Kerbholz zu haben, genauso wie Sarah Jane, deren Vergangenheit ebenfalls Stück für Stück ans Licht kommt.

In »Sarah Jane« fächert James Sallis ein beeindruckendes Panorama der kleinstädtischen amerikanischen Gegenwartskultur auf. Nicht nur Sarahs Geschichte, auch die vielen kleinen und größeren Geschichten der zahlreichen Bewohner werden auf gut 200 ungemein dicht erzählten Seiten dieses außergewöhnlichen Buches zusammengeführt und miteinander verknüpft. Da geht es um einen verschwundenen Teenager - alle im Ort vermuten ein Verbrechen, aber es stellt sich heraus, dass der Junge einfach nur einige Tage bei einer älteren, schwer kranken Nachbarin war, der er zur Seite stehen wollte.

Ein für seine Frauenfeindlichkeit und Brutalität bekannter Polizist des Nachbar-Countys taucht plötzlich in Farr auf und sucht jemanden, was bei einigen im Sheriff-Department die Alarmglocken losgehen lässt. Daneben gibt es aber auch jede Menge ganz banale Verkehrsunfälle, Schlägereien, Suizide und Sarahs nachbarschaftliche Interventionen im Kleinstadtuniversum von Farr, die nicht selten eher an Sozialarbeit erinnern als an die Arbeit eines Sheriffs.

»Sarah Jane« ist kein klassischer Genre-Roman der Kriminalliteratur, sondern ein amerikanisches Sozialdrama und Psychogramm einer Kleinstadtwelt. Mit einer ganz ähnlichen Figur in einem sozial randständigen Milieu wartete vor Kurzem erst der amerikanische Bezahlsender HBO in der von der Kritik hochgelobten Serie »Mare of Easttown« auf (hier zu sehen auf Sky), in der Kate Winslet ebenfalls als taffe Polizistin in einer Kleinstadt ermittelt. Und ganz ähnlich wie in der Serie tritt in »Sarah Jane« das Verbrechen, um das es natürlich auch geht, immer wieder in den Hintergrund. Bis es plötzlich zum Brennglas dieser ganzen Geschichte wird, die bei allen Nebenschauplätzen und anekdotenhaften Kleinstadtstorys doch wieder zum roten Faden zurückfindet, mit dem James Sallis diese unglaubliche und vielschichtige Geschichte wieder genial zusammenführt.

James Sallis: Sarah Jane. A. d. amerik. Engl. v. Kathrin Bielfeldt u. Jürgen Bürger. Liebeskind, 224 S., geb., 20 €.

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