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Ganzheitlicher Zynismus

Leo Fischer über demütigende »Hilfsangebote« für ausgegrenzte Menschen

Wie wird mit denen umgegangen, die durchs Netz fallen? Welche Achtung genießen diejenigen, die nicht »funktionieren«, nicht »beitragen«? Daran bemisst sich der Zivilisationsgrad einer Gesellschaft. Die Entsolidarisierungswelle, die mit der Einführung von Hartz IV in den Nullerjahren begann, privatisierte auch den Umgang mit Armut, machte ihn zum Problem der Einzelnen – auf allen Ebenen. Nicht nur die Armen selbst sollten das Problem bei sich selbst suchen, in endlosen Motivations- und Bewerbungstrainings die richtige Einstellung fürs falsche Leben lernen, sondern auch diejenigen, für die Armut vor allem als Bedrohungsszenario erzeugt wird.

Es ist kein Zufall, dass im Schatten des schikanösen Hartz-IV-Systems das ebenso schikanöse System der »Tafeln« erwuchs; ein privates Forum der Demütigung, bei dem Supermärkte sich dafür feiern lassen, ihren Ramsch unter den Verzweifeltsten zu entsorgen. Die herablassenden, oft genug sexistischen und rassistischen Kommentare, die Besucher*innen der »Tafeln« ertragen müssen, die Scham, fürs Überleben auf die gönnerhaft ausgestreuten Brosamen gigantischer Lebensmittelkonglomerate angewiesen zu sein, dient wie Hartz IV selbst zur Einschüchterung nicht nur der Ärmsten selbst, sondern auch jener, die auf keinen Fall arm werden dürfen.

Zur Person

Leo Fischer war Chef des Nachrichtenmagazins »Titanic«. In dieser Rubrik entsorgt er den liegen gelassenen Politikmüll.

Foto: privat

Wohlfahrt als Mittel der Repression, als hämische Überlegenheitsgeste, hat in diesen Tagen ein neues Gesicht bekommen. In der Essener Innenstadt fährt seit Donnerstag ein umgebauter Rettungswagen als »Naturheilmobil« herum. Die nach eigenen Angaben deutschlandweit einzigartige »mobile Naturheilpraxis«, die sich ausdrücklich an Obdachlose richtet, soll »die Hemmschwelle bei armen Menschen« senken, »solche Angebote« anzunehmen.

Ein Verein »Naturheilpraxis ohne Grenzen e.V.« verlautbart dazu salbungsvoll: »Wer auf der Straße lebt, von Armut betroffen ist und keine sozialen Netzwerke hat, die ihn auffangen, der erlebt neben existenziellen Nöten oft auch Ausgrenzung und Einsamkeit. Unentgeltlich erhalten Menschen eine ganzheitliche und naturheilkundlich-basierte medizinische Hilfe und psychologische Beratung. Dabei steht der individuelle Mensch im Mittelpunkt der Behandlung – ganzheitlich im Sinne von Körper, Geist und Seele.«

Das nämlich fehlt Obdachlosen am meisten: Scharlatane mit Sendungsbewusstsein, die ihren teils wirkungslosen, teils gefährlichen Nonsens auch noch als soziale Wohltat verhökern. Unterstützt werden sie von der Stadt Essen, die ihnen nicht nur Geld gegeben, sondern gleich den alten Krankenwagen frei Haus geliefert hat. Solche Wägen immerhin gibt’s genug: Gleich zwei Kliniken haben in Essen in den letzten Jahren geschlossen. Eine dreiköpfige Familie erhält vom Jobcenter Essen eine Maximalkaltmiete von 658,40 Euro – wer hier nach den Ursachen von Armut, Krankheit und Obdachlosigkeit fragt, hat andere Antworten verdient als ein Schrottmobil, das Zuckerkügelchen verteilt.

Während Covid vor allem unter Armen wütet, während Zehntausende sich nicht impfen lassen können, weil ihnen beispielsweise ein Aufenthaltstitel fehlt, während »alternativmedizinische« Falschinformationen zu Covid ungebremst durch die sozialen Medien rasen, ist Geld genug da für Leute, die sich auf diesem Elend auch noch profilieren. Beschämend die Reaktion des örtlichen WDR, dessen Journalist*innen diese Farce nicht nur nicht kritisieren, sondern sie, via »WDR Lokalzeit Ruhr« sogar noch mit Herzchen-Emoji als »Hilfe für Körper und Geist« anpreisen. Mit den Armen in Deutschland darf man buchstäblich alles machen, alles ist erlaubt – solange sie dabei arm bleiben.

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