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Akustischer Exhibitionismus
Melanie Jaeger-Erben verschickt sehr ungerne Sprachnachrichten über ihr Handy
Die Digitalisierung – Segen und Fluch. Sie hat uns das Homeoffice gebracht, papierlose Verwaltung (zumindest in der Theorie) und jederzeitigen Zugang zu Wissen, Unterhaltung und Menschen weltweit. Gleichzeitig frisst sie soziale wie ökologische Ressourcen in nie dagewesener Geschwindigkeit. Digitale Medien bringen Menschen zusammen und ermöglichen gleichzeitig Ausgrenzung, Polarisierung und Entfremdung.
Eine sich in diesem Zusammenhang rasant ausbreitende Unsitte: die Sprachnachricht. Sie wirkt auf den ersten Blick wie eine praktische Ergänzung zur digitalen Kommunikation. Doch in Wahrheit ist sie ein Paradebeispiel dafür, wie persönliche Bequemlichkeit mit kollektiver Belastung einhergeht – ökologisch wie sozial.
Es beginnt meist ganz harmlos. Ein kurzes »Ich mach’ mal kurz eine Sprachnachricht...« und dann: ein vierminütiger Monolog. Die Sprachnachricht gewinnt an Beliebtheit, besonders bei Kindern und Jugendlichen, die genauso regelmäßg Sprachnachrichten schicken wie telefonieren.
Prof. Melanie Jaeger-Erben lehrt Technik- und Umweltsoziologie an der Brandenburgischen TU Cottbus-Senftenberg.
Unsere digitalen Hinterlassenschaften wachsen ins Unendliche. Jede Sprachnachricht ist ein Datenpaket, das mehrfach kopiert, übertragen, zwischengespeichert und gesichert wird. Der Server, der die Nachricht speichert, steht selten im luftigen Grünen, sondern in einem energieintensiven Rechenzentrum, das rund um die Uhr gekühlt und betrieben wird – oft mit fossiler Energie. Die Nutzung digitaler Technologien verbraucht bald vier Prozent der globalen Treibhausgasemissionen: Das ist mehr als der zivile Flugverkehr. Jede hochgeladene, gestreamte und gespeicherte Nachricht verbraucht Energie, im Rechenzentrum, im Mobilfunknetz, im Endgerät. Sprachnachrichten werden meist auf Smartphones aufgenommen, abgespielt und gespeichert. Je intensiver die Nutzung, desto häufiger muss geladen, aktualisiert oder neu gekauft werden.
Die Sprachnachricht ist zudem Ausdruck einer Kommunikationspraxis, die sich immer mehr am Individuum orientiert und dabei kollektive Ressourcen belastet – Zeit, Aufmerksamkeit, Energie. Statt synchron zu kommunizieren, senden wir lieber asynchrone Audiopakete in die Welt, deren Inhalt so viele Redundanzen aufweist, dass wir sie oft in zweifacher Geschwindigkeit hören. Soziale Nähe entsteht dabei selten.
Natürlich, es gibt sinnvolle Anwendungsbereiche. Menschen mit eingeschränkter Schreibfähigkeit profitieren. Sprachnachrichten sind der smarte Anrufbeantworter, wenn Zeit, Muße oder Erreichbarkeit für Anrufe nicht verfübar sind. Auch für emotionale Botschaften kann die Stimme ein Mittel der Nähe sein. Gleichzeitig wird die Schwelle zur Kontaktaufnahme so niedrig, dass sie fast wieder eine Hürde ist. Schließlich erfordert das Anhören eine ruhige Umgebung und Kopfhörer, um sich nicht dem akustischen Exhibitionismus hinzugeben.
Was also tun? Vor allem an der Hoffnung festhalten, dass dies nur ein Übergangsphänomen ist, dass wir lernen, ein Gespräch wieder als Geschenk zu betrachten statt als zu vermeidende Belastung – und dass vielleicht ein nettes technisches Feature erfunden wird, das Sprachnachrichten nach 45 Sekunden in einen Anruf umwandelt.
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