Stresstest für Familien

100 Jahre nach Insulin-Entdeckung gibt es bei Kindern mit Diabetes-Typ-1 Versorgungsprobleme

Die Zahl von Kindern und Jugendlichen mit Typ-1-Diabetes, die eine sehr schlechte Stoffwechsellage haben, sinkt zwar seit etwa zehn Jahren. Auch schwere Unterzuckerungen sind dank neuer technischer Hilfsmittel wie etwa Insulinpumpen und Glukosesensoren zurückgegangen. Doch noch immer erreichen nur 30 Prozent der Betroffenen Therapieziele, die eigentlich möglich und in medizinischen Leitlinien festgehalten sind.

Zu den Ursachen meldeten sich - auch anlässlich der Entdeckung von Insulin vor 100 Jahren - Experten der Deutschen DiabetesGesellschaft (DDG) zu Wort. Interessant bei diesem Jubiläum ist, dass Insulin als Ersatztherapie gerade bei einem 14-Jährigen zum ersten Mal erfolgreich eingesetzt wurde. Leonard Thompson aus Toronto, Kanada, erhielt das blutzuckersenkende Hormon im Januar 1922. Davor waren Kinder mit Typ-1-Diabetes an lebensbedrohlichen Stoffwechselentgleisungen gestorben.

Diese Zeiten sind überwunden, aber Diabetologen machen sich dennoch Sorgen. Denn trotz großer Fortschritte in der Insulinzufuhr in den letzten beiden Dekaden erreicht nur eine Minderheit von Kindern (und auch Erwachsenen) optimale Werte bei der glykämischen Kontrolle über längere Zeiträume. Allgemein gilt: Der Alltag mit dieser Krankheit ist eine Herausforderung - besonders für die jüngsten Patienten. »In Kita und Schule, vor allem in der Ganztagsbetreuung - die Beobachtung muss immer funktionieren. Das heißt, zu jeder Mahlzeit, um neun Uhr, um 13 Uhr und noch einmal um 15 Uhr, den Blutzucker messen oder überprüfen. Entscheiden, ob Insulin gegeben werden muss. Ob das Kind am Sport teilnehmen kann. Ob es mit dem Bus nach Hause fahren kann oder doch lieber wartet, bis es von einem Elternteil abgeholt wird«, schildert DGG-Präsident Andreas Neu die übliche Situation. »Das ist an keinem Tag anders, auch dann nötig, wenn ein Klassenausflug ansteht oder die Kitagruppe einen Spaziergang macht.«

Offensichtlich gibt es für eine gute Versorgung noch viele Barrieren. Sehr hilfreich wäre es, wenn in den Schulen Gesundheitsfachkräfte auch diese chronisch kranken Kinder zuverlässig unterstützen könnten, meint auch Kinderarzt Neu. In Hessen dümpelt ein solches Modellprojekt vor sich hin; in Brandenburg wird es jetzt sogar eingestellt. Gerade steigt aber der politische Druck, und es gibt in der DGG sogar Hoffnungen, dass das Thema im Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung auftaucht. Ein weiteres Problem ist, dass durchaus zugelassene Hilfs- und Heilmittel wie etwa spezielle Insulinpumpen für Kinder von den Krankenkassen bei 30 Prozent der Anträge abgelehnt werden. »Diese Geräte sind innerhalb von zwei Tagen lieferbar, aber die Bürokratie dauert vier bis sechs Monate«, empört sich der Mediziner.

Entsprechend sind die Auswirkungen auf das Leben der Familien dieser Kinder: 39 Prozent der Mütter schränken ihre Berufstätigkeit ein, 31 Prozent geben sie gleich ganz auf - und 46 Prozent der Familien müssen deshalb mit erheblichen finanziellen Einbußen klarkommen.

Auch wenn sich Angehörige in hohem Maße für das Wohlergehen ihrer Kinder engagieren - im Ergebnis gelingt das nicht immer. Dann kann im schlechtesten Fall das passieren, was vor mehr als 100 Jahren lebensbedrohlich war: Im Körper des Kindes ist fast kein Insulin mehr verfügbar, es kann zu einem diabetischen Koma kommen. Die gefährliche Stoffwechselentgleisung wird genauer als diabetische Ketoazidose bezeichnet. Ihre Häufigkeit liegt bei der erstmaligen Feststellung eines Typ-1-Diabetes in Deutschland seit Jahren konstant bei 20 bis 26 Prozent. Aber auch hier brachte der erste Coronavirus-Lockdown im letzten Frühjahr eine Verschlechterung: Der Wert stieg auf fast 45 Prozent an. Am stärksten betroffen waren Kinder unter 6 Jahren.

Die wichtigsten Symptome der Stoffwechselentgleisung sind Müdigkeit, Durst, Harndrang und Gewichtsverlust. Dazu starteten besorgte Kinderdiabetologen und Pädiater im Sommer eine eigene Informationskampagne, damit die Heranwachsenden rechtzeitig versorgt werden können. Zeigt eine Ketoazidose die Krankheit erstmalig an, ist sie jedoch schon in einem fortgeschrittenen Stadium - etwa 80 Prozent der Funktion der Insulin produzierenden Betazellen der Bauchspeicheldrüse ist bereits verloren.

Wie bereits angedeutet, gibt es nicht nur die Gefahr von Ketoazidosen bei der ersten Manifestation von Typ-1-Diabetes. Erhöhte Glukosekonzentrationen, die immer wieder auftreten, wenn die Überwachung nicht engmaschig genug gelingt, führen zu Langzeitkomplikationen wie der Erblindung durch eine Veränderung der Netzhaut. Eine große Diabetes-Kontroll- und Komplikations-Studie von 1993 zeigte, dass verbesserte glykämische Kontrolle diese Komplikationen verzögern kann.

Forscher auf der ganzen Welt ringen um einen alternativen Ansatz zur Bekämpfung der Krankheit. Dabei soll die Notwendigkeit einer Insulinzufuhr von vornherein vermieden werden. Gelingen könnte das entweder durch die Unterbrechung des Krankheitsprozesses in einem frühen Stadium oder gleich ganz durch die Verhinderung der Autoimmunität. Mediziner von britischen und US-amerikanischen Universitäten und Forschungsinstituten haben in einem Überblicksbeitrag in der Zeitschrift »Science« im Sommer zusammengetragen, welche Möglichkeiten es zunächst geben könnte, die Typ-1-Diabetes schon vor dem ersten gravierenden Insulinmangel zu entdecken.

Bei der Autoimmunerkrankung werden die Insulin produzierenden Zellen der Bauchspeicheldrüse irreversibel durch T-Lymphozyten zerstört. Angezeigt wird dies unter anderem durch Antikörper gegen die Pankreas-Inselzellen; diese gelten als robuster Marker des Krankheitsprozesses. Umso weiter der voranschreitet, umso weniger Insulin kann bereitgestellt werden. Irgendwann kommt es zu einer Hyperglykämie, also zu einer Überzuckerung des Blutes. Diese kann sich in jedem Lebensalter entwickeln, am häufigsten wird die Diagnose im 12. Lebensjahr gestellt.

Nach aktuellen Studien könnte die Suche nach den genannten Antikörpern gegen die Inselzellen mit einer Abschätzung des genetischen Risikos für eine Typ-1-Diabetes kombiniert werden - auf diese Weise wären gefährdete Kinder schon dann zu identifizieren, wenn die Insel-Zell-Funktion noch ausreicht, um die Glukosekonzentration im Blut eigenständig zu kontrollieren.

Wenn die gefährdeten Kinder bekannt sind, könnte der Verlauf der Erkrankung durch Immuntherapien verzögert werden. Hierzu laufen bereits Studien, ebenso dazu, wie ein Beginn der Autoimmunreaktion überhaupt verhindert werden kann. Eine Studie hatte kürzlich gezeigt, dass eine 12- bis 14-tägige Behandlung mit dem Antikörper Teplizumab den Beginn eines Typ-1-Diabetes um mehrere Jahre hinauszögern könne. Werden hier in der Breite einsetzbare Wirkstoffe gefunden, könnte sich der Fokus bei der Bekämpfung dieser Form des Diabetes vom Insulinersatz weg hin zur frühen Diagnose und dem Erhalt der Inselzellen verschieben.

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