Die Abstiegsangst der Mittelschicht

WSI-Verteilungsbericht: Untere Einkommen büßen aufgrund von Corona am häufigsten ein

  • Simon Poelchau
  • Lesedauer: 4 Min.

Working Poor: Dieser Begriff aus dem Englischen, der Erwerbsarmut bezeichnet, ist mittlerweile auch hierzulande gängig. Denn insbesondere in der Mittelschicht ist in den vergangenen Jahren die Angst vor Arbeitslosigkeit der Angst um die eigene finanzielle Sicherheit gewichen. Dies legen zumindest die Kernaussagen des am Mittwoch veröffentlichten Verteilungsberichts des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung nahe. Demnach haben sich die Angst vor Arbeitslosigkeit und die Angst vor finanzieller Unsicherheit deutlich auseinanderentwickelt.

Wie schnell Job und Einkommen weg sein können, zeigte vielen die Coronakrise. Besonders einkommensschwache Haushalte litten unter den Auswirkungen der Pandemie. So haben laut WSI gut 62 Prozent der Haushalte mit einem Vorkrisen-Einkommen von unter 1500 Euro netto pro Monat durch die Pandemie mit weniger Geld auskommen müssen. In der Gruppe zwischen 1500 bis 2000 Euro, die das WSI zur unteren Mittelschicht rechnet, waren es 54 Prozent. Am besten kam die mittlere Mittelschicht mit einem Einkommen von 2000 bis 2500 Euro durch die Krise. In ihrer Gruppe litten 44,8 Prozent an Einkommensverlusten. Bei der oberen Mittelschicht (2500 bis 3500 Euro) und der Oberschicht (ab 3500 Euro) waren es mit 47,5 beziehungsweise 47,4 Prozent schon wieder etwas mehr.

Für ihren Verteilungsbericht analysierten die Forscher*innen des WSI Daten aus dem Sozio-oekonomischen Panels (SOEP), das mit jährlich rund 16 000 befragten Haushalten eine der größten Umfragen ist, sowie die Erwerbspersonenbefragung der Hans-Böckler-Stiftung, die zwischen Frühjahr 2020 und Juli 2021 viermal stattfand. Was die Ökonom*innen herausfanden, ist eigentlich erst mal positiv: Zwischen 2016 und 2018 ging die Einkommensungleichheit hierzulande leicht zurück - auch weil die Einkommen der Mittelschicht zwischen 2014 und 2018 spürbar gewachsen sind.

»In den 2000er Jahren waren Abstieg und Schrumpfung der Mittelschicht ein häufiges Thema, auch in wissenschaftlichen Analysen. In den späteren 2010er Jahren hat sich ihre Situation entspannt, wie die Daten zeigen«, sagt WSI-Direktorin Bettina Kohlrausch. Das sei ein »ermutigender« Befund. »Selbst in Zeiten internationaler Unsicherheiten und zunehmender Globalisierung schließen sich sinkende Arbeitslosenzahlen, verbesserte Arbeitsbedingungen und steigende Einkommen nicht aus.«

Letztlich war die Einkommensungleichheit 2018 aber noch größer als 2010. So lag der sogenannte Gini-Koeffizient, der umso größer ist, desto größer die Ungleichheit ist, zuletzt bei 0,29. 2010 waren es noch 0,282. Vor der Jahrtausendwende lag dieser Wert noch bei knapp 0,25. Und: Vom Einkommensplus der letzten Jahre hatten die Geringverdiener*innen nichts. Das unterste Einkommenszehntel musste 2018 mit genauso viel zurechtkommen wie 2010, während sich die reichsten zehn Prozent über das größte Einkommensplus, nämlich im Schnitt zehn Prozent, freuen konnten.

So macht der WSI-Bericht deutlich, was Verteilungsexpertin Kohlrausch die »Bruchlinien durch unsere Gesellschaft« nennt: »Positive Einkommensentwicklung und stabile Perspektiven ergeben sich vor allem bei den Teilen der Mittelschicht, die in die bewährten Strukturen des deutschen Arbeitsmarktes integriert sind. Dazu zählen etwa sozialversicherungspflichtige Beschäftigung, Tarifverträge und Mitbestimmung.« Die Situation in der unteren Mittelschicht sei hingegen deutlich prekärer, wie sich in der Coronakrise wieder besonders klar zeige, so Kohlrausch.

Vor allem aber nimmt offenbar in der Mittelschicht der Glaube ab, dass Arbeit vor Armut schützt. So ging einerseits die Angst um den eigenen Arbeitsplatz zurück: Laut WSI gaben 2010 rund 54 Prozent der Befragten an, die zur Mittelschicht gehören, dass sie Sorge um ihren Job haben, während es 2019 nur noch 30 Prozent waren. Gleichzeitig sank zwar auch die Sorge um die finanzielle Sicherheit. Diese ging aber deutlich weniger zurück: 2010 hatten 72 Prozent der Befragten Geldsorgen, 2019 waren es noch 56 Prozent.

Kohlrausch zufolge zeigt die Tatsache, dass sich die Angst vor Arbeitslosigkeit und finanzieller Unsicherheit erheblich entkoppelt haben, »dass Erwerbsarbeit auch für Angehörige der Mittelschicht keine langfristige Garantie für soziale Sicherheit darstellt«. Dies verweise auf soziale Verunsicherung trotz steigender Löhne und sinkender Angst vor Arbeitslosigkeit. Besonders deutlich werden die Abstiegsängste der Mittelschicht, wenn man sich das Thema Altersarmut anschaut. So ging die erstmals 2015 gemessene Sorge um die Altersarmut bis 2019 nur um einen Prozentpunkt auf 63 Prozent zurück.

Das heißt also, dass sich fast zwei Drittel der Mittelschicht Sorgen machen, ob sie eine auskömmliche Rente haben oder im Alter aufs Flaschensammeln angewiesen sein werden.

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