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  • Steffen Mau und Migrationsforschung

Harte und smarte Schranken

Der Soziologe Steffen Mau zeigt in seinem Buch »Sortiermaschinen«, wie Grenzen heute aussehen und operieren. Die Mauern und Zäune werden wieder mehr, gleichzeitig wird die digitale und technologische Kontrolle ausgeweitet

  • Nina Amelung und Silvan Pollozek
  • Lesedauer: 7 Min.

Steffen Mau, Professor für Makrosoziologie an der Humboldt-Universität zu Berlin, macht in seinem kürzlich erschienenen Buch »Sortiermaschinen. Die Neuerfindung der Grenze im 21. Jahrhundert« das, was er besonders gut kann: Er führt die Leserin und den Leser ohne Vorkenntnis in eine sehr komplexe und vielschichtige, kontroverse und politisierte, aber eben auch sehr notwendige Diskussion über die veränderte Bedeutung und Rolle von Grenzen in einer globalisierten Welt zu Beginn des 21. Jahrhunderts ein. Im besten Sinne einer »public sociology«, die zu aufgeklärter und kritischer Diskussion auch jenseits der soziologischen Fachöffentlichkeit beitragen möchte, ist sein Buch verfasst. Es ist »kompakt und thesenhaft gehalten, spitzt zu und konzentriert sich auf das Wesentliche«, wie es in der Danksagung heißt, und wird damit dem eigenen Anspruch des Autors gerecht, das Thema um territoriale Grenzen und Grenzkontrollen breitenwirksam zugänglich zu machen.

Den Startpunkt des Buches bildet die These, dass unter Bedingungen der Globalisierung Grenzen nicht verschwinden. Vielmehr verändern sie ihre Operationsweise, treten in neuen sozio-technischen Konstellationen (etwa als »smart borders«, dazu später mehr) wieder auf und bewegen sich weg von der festen territorialen Linie der Außengrenzen eines Nationalstaats. Dabei macht Mau klar, dass die räumlich-territorialen Grenzen nach wie vor eine wichtige Rolle spielen. Allerdings sind diese nun eingebettet in vervielfältigte und verschachtelte Grenzordnungen, die versuchen »Mobilitätssteigerung und Mobilitätsverhinderung« gleichzeitig zu hervorzubringen, das heißt, zu unterscheiden und sortieren zwischen »denjenigen, die passieren dürfen, und jenen, die aufgehalten oder zurückgewiesen werden« sollen.

In den folgenden Kapiteln zeigt das Buch eindrücklich den Trend eines stetig zunehmenden Baus von »harten« Mauergrenzen auf. Die dort entstehenden Zonen der Ausnahme mit ihren Lagern und teils ausgehebelten Menschenrechten werden als »Rückstauzentren« von Mobilitäten analysiert. Es führt in die Sortierfunktion der Grenze mittels der Institution des Passes und Visumspflichten ein, die - als »papierner Vorhang« - Mobilitäts- und Freizügigkeitsrechte strukturieren. Es gibt Einblicke in allerlei »smart border«-Initiativen auf der Welt, die mittels komplexer Datenbanksysteme, biometrischer Identifizierungstechnologien und Risikoklassifikationen neue Formen der Überwachung und Sortierung hervorbringen. In den letzten Kapiteln werden diese verschiedenen Formen der Grenze auf die Frage hin zusammengeführt, wie Grenzen sich ausgestalten, wenn Nationalstaaten einerseits in überstaatliche, aber nicht globale, Zirkulationsräume wie die EU eingebunden sind und andererseits allerlei Abkommen mit Drittstaaten eingehen, um »Ferngrenzen« einzurichten beziehungsweise Grenzen zu exterritorialisieren.

Grenzen und globale Ungleichheiten

Zwei Aspekte des Buches sind unseres Erachtens nach besonders hervorzuheben. Erstens die Reformulierung der Frage nach Grenzen im Kontext der Globalisierung. So arbeitet das Buch weit über den Tellerrand der EU hinausblickend globale Trends heraus, die auch durch eigene empirische Forschung und Daten untermauert werden. Ergebnisse aus zwei von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Forschungsprojekten zu globalen Prozessen des »de- und rebordering«, die Mau gemeinsam mit Kolleg*innen durchgeführt hat, fließen hier ein.

Zweitens werden Fragen der Rekonfiguration von Grenzen mit Fragen sozialer Ungleichheiten verbunden und explizit die damit verbundenen Mobilitätsprivilegien und Ausgrenzungsmechanismen herausgearbeitet. So sind subtile Filtergrenzen am Werk, wenn für einen Staat »nützliche« Arbeitsmigration wie bei der »Spargelhelfer-Luftbrücke« zu Beginn der Pandemie von irregulärer Migration unterschieden wird oder wenn Staatsbürgerschaften und Pässe mehr oder weniger nützlich für Reisemobilität sind. Da wir uns weder Geburtsort noch Eltern aussuchen können, sind die daraus resultierenden Mobilitätsrechte sehr ungleich verteilt. Ein Generalbefund in diesem Zusammenhang ist, dass »harte« und befestigte Grenzen für die einen und »weiche«, also schnelle, leicht passierbare Grenzen für die anderen entlang von deutlichen Wohlstandsungleichheiten verlaufen.

Wer schaut auf die Maschinen?

Die informierten, kritischen Migrationsforscher*innen könnten nach dieser Zusammenfassung nun einwenden: Soweit, so gut, so neu? Denn tatsächlich sind Fragen rund um »social sorting«, Exterritorialisierung und rekonfigurierte Grenzregimes schon seit vielen Jahren Gegenstand produktiver Forschung, wie sie etwa im Forscher*innen- und Aktivist*innen-Netzwerk Kritnet vorgenommen wird. Auch die Frage nach der Datafizierung und Digitalisierung der Grenze ist seit nunmehr rund zehn Jahren Gegenstand intensiver akademischer Debatten, wie sie etwa im internationalen Forscher*innen- Netzwerk STS-MIGTEC diskutiert werden.

Tatsächlich ist Maus Beitrag nicht zwingend einer, der zu diesen aktuell laufenden Debatten provozierend neue Anstöße leistet, aber er fasst viele davon verständlich zusammen. Auch lernen wir zwar viel über das »Sortieren« an der Grenze, allerdings bleiben die »Maschinen«, die das bedingen, vornehmen und operationalisieren, etwas unterbelichtet. Die Ausführungen im Buch lassen vermuten, dass Maschinen nicht nur ein technisches Arbeitsmittel sind, sondern komplexe sozio-technische und sozio-materielle »Kontrollarrangements«, die sich aus so unterschiedlichen Entitäten wie Datenbanken, Algorithmen, Grenzpolizist*innen, Visa-Formularen und Grenzmauern zusammensetzen.

Ein genaues Verständnis von den Maschinen des Sortierens zu erlangen, ist unseres Erachtens zentral, weil sie die Voraussetzung sind, um eine informierte Diskussion über moralisch-ethische Verantwortung und sozial-politische Kontrolle und Gestaltung von Grenzregimen führen zu können. Zumal in Zeiten von zunehmender Technologisierung und Datafizierung sowie Externalisierung von Grenzen und Grenzkontrolle. Dazu gehört zum Beispiel, zu untersuchen, welche Logiken des Aussortierens in algorithmische Klassifikationssysteme eingeschrieben werden, wie genau Menschen und Technologien an Grenzorten »zusammenarbeiten«, an welchen Stellen solche Arrangements reguliert, überblickt und kontrolliert werden und auf welche Weise wer oder was im Falle von (Kollateral-)Schäden und Menschenrechtsverletzungen zur Verantwortung gezogen werden kann.

Konzeption und Einsatz

Aktuelle Forschung an der Schnittstelle von kritischer Migrations- und Grenzforschung sowie Science and Technology Studies (STS) versuchen, die Technologien, Algorithmen, Künstliche-Intelligenz-Systeme und Datenbanken empirisch und konzeptionell nachzuvollziehen und ihre sozialen und politischen Implikationen und Effekte sichtbar zu machen. Wie Huub Dijstelbloem, Professor an der Universität Amsterdam, in seinem kürzlich erschienen Buch »Borders as Infrastructure« (»Grenzen als Infrastruktur«) betont, muss man sowohl das Design als auch das De-facto-Operieren von Technologien kritisch unter die Lupe nehmen. Im Designprozess verhandeln Politiker*innen, Unternehmen für Sicherheitstechnologien, Agenturen (wie etwa eu-LISA, die Europäische Agentur für das Betriebsmanagement von IT-Großsystemen, oder Frontex in der EU) und andere Akteure darüber, welche Grenz- und Sortierfunktionen in Technologien eingeschrieben werden sollen, welche Daten gesammelt und ausgewertet werden dürfen oder wem welcher Zugriff gestattet wird.

Wenn solche Technologien dann von Sicherheits- und Grenzbeamt*innen, Migrationsbürokrat*innen und von nationalen Datenschützer*innen begleitend implementiert werden und de facto operieren, entstehen zahlreiche Eigendynamiken, Auslegungsspielräume und Anpassungen vor Ort, die nur schwer nachzuvollziehen sind und teils wenig mit den aufgestellten Regelwerken zu tun haben. So hat Frontex in den vergangenen Jahren offenkundige Menschenrechtsverletzungen an der EU-Außengrenze beispielsweise durch illegale Pushbacks nicht gemeldet, obwohl das eigentlich nach den Regeln der Agentur vorgesehen ist.

Das Eigenleben von Sortiermaschinen

Darüber hinaus entwickeln implementierte Daten- und Informationssysteme ein Eigenleben, deren Auswirkungen im Voraus kaum antizipierbar sind und deren Konsequenzen begleitend erforscht werden müssen. Um ein Beispiel zu nennen: Während die EU-Datenbank Eurodac zunächst insbesondere Fingerabdruckdaten sammelte, um die Zuständigkeit von Mitgliedstaaten für Asyl- und subsidiäre Schutzberechtigte im Dublin-Verfahren festzulegen, bewegt sich die EU mittlerweile dahin, Datensätze verschiedenster Migrations- und Mobilitätsarten zusammenzuschließen und nutzbar zu machen. Weitere Datenbanksysteme, einschließlich der sogenannten Prüm-DNA-Datenbank, die biometrische Daten von Straffälligen und Straftatverdächtigen über nationale Grenzen in der EU austauscht, werden als zukünftige Kandidaten für eine solche Vernetzung gehandelt. Diese wären dann unter Einrichtung einiger Datenschutzmechanismen zugänglich für Einwanderungs-, Asyl- und Strafverfolgungsbehörden.

Die Vernetzung von derlei Datenbanksystemen für verschiedene staatliche Zwecke und die Vermengung von Migrations-, Grenz- und Kriminalitätskontrolle führen unter anderem dazu, dass Verdacht, Misstrauen und Risiko gegenüber Migrant*innen generalisiert wird. Das kann bis zur unkritischen und unberechtigten Kriminalisierung führen. Diese sichtbaren und unsichtbaren Konsequenzen für bestimmte Personengruppen spielen sich jedoch zumeist abseits des Radars der Öffentlichkeit sowie jenseits der eigenen Kenntnis der betroffenen Person ab. Nicht zuletzt dieser Sachverhalt ist Auftrag für weitere kritische Forschung zu den sich immer weiterentwickelnden Sortiermaschinen.

Steffen Mau: Sortiermaschinen. Die Neuerfindung der Grenze im 21. Jahrhundert. C.H. Beck, 189 S., br., 15 €.

Nina Amelung arbeitet an der Universität Lissabon zu kritischer Migrationsforschung und Science and Technology Studies (STS). Silvan Pollozek forscht an der Universität in Frankfurt an der Oder zu Dateninfrastrukturen und Grenzen.

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