Blaues Auge für Präsident Fernández

Argentiniens Mitte-links-Regierungsbündnis kann die Verluste bei den Teilwahlen in Grenzen halten

  • Jürgen Vogt, Buenos Aires
  • Lesedauer: 4 Min.

Am Wahlabend jubelten in Argentinien alle. Die linksprogressive Regierungsallianz Frente de Todos (Gemeinsame Front), weil sie bei den Teilwahlen zum Kongress nicht so stark eingebrochen war wie bei den Vorwahlen im September und dies als großen Triumph ausgab. Die oppositionelle Koalition Juntos por el Cambio (Gemeinsam für den Wechsel), weil sie zur stärksten politischen Kraft wurde. Die Parteien Rechts- und Linksaußen, weil sie gute Stimmengewinne einfahren konnten.

Gewählt wurden am Sonntag die Hälfte der 257 Delegierten des Abgeordnetenhauses und ein Drittel des 72-köpfigen Senats. Da Wahlpflicht herrscht, waren alle rund 34 Millionen Wahlberechtigten aufgefordert, zu den Urnen zu kommen. Dennoch gaben nur 72 Prozent der Wahlpflichtigen ihre Stimmen ab, nur wenig mehr als bei den Vorwahlen im September. Deren Ergebnis wurde am Sonntag weitgehend bestätigt.

Landesweit kommt die Regierungsallianz auf nur 33 Prozent der Stimmen. Selbst in ihrer Hochburg in der Provinz Buenos Aires landete sie, wenn auch knapp, auf dem zweiten Platz. Im Senat verlor sie erstmals seit der Rückkehr zur Demokratie 1983 die Mehrheit. Das ist ein schwerer Schlag für die ehemalige Präsidentin (2007-2015) und jetzige Vizepräsidentin Cristina Kirchner, die zugleich Senatspräsidentin ist. Gewinnerin ist eindeutig die rechtsliberale Koalition Juntos por el Cambio, die landesweit 42 Prozent der Stimmen auf sich vereinigen konnte. Ihr bestes Ergebnis fuhr sie mit 47 Prozent in der Hauptstadt Buenos Aires ein.

Einen beachtlichen Erfolg erzielte der rechtslibertäre Ökonom Javier Milei. Seine Partei La Libertad Avanza (Die Freiheit schreitet voran) wurde mit 17 Prozent der Stimmen drittstärkste Kraft in der Hauptstadt. Cholerisch, provozierend und meist beleidigend tingelt der 51-Jährige seit Jahren mit dem immer gleichen Credo umher: Der Staat ist eine Zusammenrottung von Schmarotzern, die dem freien Unternehmertum via Steuern die gerechten Gewinne aussaugen. Damit kommt er zwar bei den Politikverdrossenen in allen Schichten an, ist jedoch bisher ein Phänomen der Hauptstadt Buenos Aires ohne jegliche Basis in den Provinzen.

Mit weniger Stimmen in der Hauptstadt (7,8 Prozent) dafür aber landesweit verankert zieht das trotzkistische Parteienbündnis Frente de Izquierda (Linksfront) wieder in den Kongress ein. Mit knapp sechs Prozent der landesweit abgegebenen Stimmen ist die Frente zur drittstärksten Kraft avanciert. Ihr mit Abstand bestes Ergebnis erzielte sie mit 25 Prozent der Stimmen in der nördlichen Provinz Jujuy.

Entscheidend für den Wahlausgang war die wirtschaftliche und soziale Situation. Die seit Jahren anhaltende Rezession der Wirtschaft wurde durch den pandemiebedingten Lockdown dramatisch verschärft. Zugleich galoppiert die Inflation. Allein im Oktober betrug der Preisanstieg gegenüber dem Vormonat 3,5 Prozent, meldete die Statistikbehörde Indec. Seit Oktober des Vorjahres sind es damit über 52 Prozent. Die neuen Armen kommen vor allem aus jenem Teil der Bevölkerung, dessen Einkommen trotz festen Arbeitsplatzes nicht mehr bis zum Monatsende reicht, da die Inflation deren Kaufkraft zerbröselt. 42 Prozent der rund 45 Millionen Argentinier*innen leben unterhalb der Armutsgrenze.

In einer Fernsehbotschaft erklärte Präsident Fernández am Wahlabend seine Bereitschaft für eine »nationale Übereinkunft« und kündigte einen Vorschlag zur Neuregelung der Verschuldung des Landes an, den er dem neuen Kongress vorlegen werde. Konkret sind es die Verbindlichkeiten in Höhe von 18 Milliarden Dollar, die im kommenden Jahr beim Internationalen Währungsfonds fällig werden und dessen Tilgungen die Zahlungsfähigkeit übersteigen würden. Doch es geht um weit mehr als nur verlängerte Tilgungsfristen. Der IWF erwartet ein schlüssiges Maßnahmenkonzept, mit dem die für den Schuldendienst notwendigen Einnahmen erzielt werden können. Im Fall Argentiniens wären dies: Einsparungen im Staatshaushalt; Subventionsabbau bei den Tarifen von Energie, Wasser und Transport; Lockerung der Finanzrestriktionen, Abwertung des Peso. Maßnahmen, die die hohe Inflation weiter anheizen und die Zahl der Armen weiter in die Höhe treiben würden. Vor allem Cristina Kirchner sperrt sich gegen diesen Kurs.

Allerdings muss jedes Abkommen mit dem IWF auch vom Kongress gebilligt werden. Möglich ist, dass sich bei der vom Präsidenten vorgeschlagenen »nationalen Übereinkunft« neue politische Allianzen herausbilden. Denn sollte eine Neuregelung mit dem IWF beispielsweise für zehn Jahre gelten, dann wäre nicht nur die gegenwärtige Regierung in ihrer noch verbleibenden zweijährigen Amtszeit, sondern auch die zwei darauf folgenden Präsidentschaften den Vereinbarungen mit dem IWF unterworfen. Dafür muss eine neue Mehrheit organisiert werden.

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