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Urlaub im Provisorium

Castelluccio di Norcia war ein wunderschönes italienisches Bergdorf in einer magischen Gegend - bis ein Erdbeben es vor fünf Jahren zerstörte

Ziemlich viel Platz zum Landen: Hochebene Piano Grande in den Sibillini-Bergen
Ziemlich viel Platz zum Landen: Hochebene Piano Grande in den Sibillini-Bergen

»Wollt ihr laufen oder fliegen?« Wer in Castelluccio di Norcia ankommt, muss mit dieser Frage rechnen. Denn Fliegen ist eine mindestens ebenso häufige Fortbewegungsart der Gäste des kleinen Dorfes in den Sibillinischen Bergen wie Wandern. Gemeint ist Paragliding. Dass die Bedingungen für diese Art der Freizeitbeschäftigung ziemlich gut sind, erschließt sich auch dem, der seine Füße auf dem Boden zu lassen gedenkt: Castelluccio liegt auf 1432 Metern zwischen drei Hochebenen, die wiederum von vergleichsweise sanft abfallenden Bergen umgeben sind. Es gibt also unzählige Startrampen und sehr viel Platz zum Landen.

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An einem Wochenende im September war der Himmel voller schwarzer Punkte, erzählt eine Deutsche, die mit ihrem Hund angereist ist und mit ihm ein Hirtenhund-Training absolviert, aber auch begeistert ist, dass man »in alle Richtungen wandern kann, bis der Arzt kommt«. Castelluccio liegt im italienischen Nationalpark Monti Sibillini in Umbrien, nahe der Grenze zu Marken, und der Hauptkamm der Gebirgsgruppe lässt sich von dort in nicht einmal zwei Stunden zu Fuß zu erreichen. Der Blick über die Hochebenen ist immer wieder atemberaubend. Die schier unendlichen Weiten, die berühmte Blütenpracht im Frühsommer und die Abgeschiedenheit im Winter müssen die Fantasie der Menschen schon immer angeregt haben. So bekamen die Berge ihren Namen von der sagenhaften apenninischen Sibylle, die dort die Zukunft vorausgesagt haben soll. Im Gletschersee Lago di Pilato zwischen den höchsten Gipfeln, dem Monte Vettore (2476 m) und der Cima del Redentore (2448 m), soll die Leiche des römischen Statthalters Pontius Pilatus mitsamt einem Ochsengespann versunken sein. Und das sind nur die bekanntesten Geschichten aus der Region.

Castelluccio wurde wie unzählige andere italienische Dörfer auf einem Hügel gebaut. Beim Näherkommen stellt man eine Besonderheit fest: Es ist kein Kirchturm zu sehen. Derzeit zumindest. Und das touristische Zentrum des Ortes hat den Charme einer Passhöhe in den Alpen: Motorräder, Autos und ein Reisebus parken auf dem Platz zu beiden Seiten der Straße, Touristen sitzen in provisorischen Cafés, in Wagen und Buden werden Produkte der Region verkauft: Wurst, Schinken, Käse, Trüffel - und vor allem Linsen, die auf der Hochebene angebaut werden und aus denen sogar Bier gebraut wird.

Das einst pittoreske Dorf versprüht heute bestenfalls noch den spröden Charme einer Passhöhe in den Alpen.
Das einst pittoreske Dorf versprüht heute bestenfalls noch den spröden Charme einer Passhöhe in den Alpen.

Bei genauerem Hinsehen ist zu erkennen, dass an manchen Stellen, wo eine Brache ist oder ein Verkaufswagen abgestellt wurde, wohl mal Häuser standen. Die Gebäude um den Platz herum sind teilweise baufällig, bei manchen fehlen Teile der Wände und Fassaden oder sie werden von mehreren Seiten abgestützt. Tiefe Risse verlaufen über ganze Häuserwände, und wo mal Fenster waren, wurde irgendwas hingemauert. Der Weg den Hügel hinauf, in den alten Kern des Örtchens, endet nach wenigen Metern an einem Bauzaun mit dem Schild: »Zona Rossa«, Betreten verboten.

Fünf Jahre ist es her, dass ein Tag das Schicksal von Castelluccio di Norcia bis auf Weiteres besiegelte. Ein Erdbeben der Stärke 6,5 zerstörte das Dorf am 30. Oktober 2016 fast vollständig. Dass niemand dabei zu Tode kam, klingt wie großes Glück im Unglück, lag aber vor allem daran, dass die Bewohner schon über zwei Monate kaum in ihren Häusern schliefen, weil die Region immer wieder erschüttert wurde. Am 24. August hatte es unter anderem das eine Autostunde entfernte Städtchen Amatrice getroffen, wo fast 240 Menschen starben. Insgesamt waren es bei der Erdbebenserie fast 300.

Dass bis heute nichts in Ordnung ist, merkt man spätestens nach Einbruch der Dunkelheit, wenn es in der Dorfmitte schlagartig still wird. Die kleinen Läden schließen, und mit den Tagestouristen fahren auch die meisten Gewerbetreibenden ab. In Norcia oder sonstwo in der Umgebung haben sie Winterquartiere, die nunmehr seit fünf Jahren Dauerwohnsitz sind. Leben herrscht abends nur noch in einer neuen kleinen Ansammlung von Restaurants und Geschäften zwischen einem Stellplatz für Wohnmobile und einer ausgestorben wirkenden Containersiedlung, zehn Minuten den Hügel hinunter.

Haus mit Stehhilfe: Vielerorts herrscht Einsturzgefahr.
Haus mit Stehhilfe: Vielerorts herrscht Einsturzgefahr.

Unser Vermieter wohnt in einem kleinen Apartment, das eigentlich auch für Touristen vorgesehen ist. Das Haus seiner Familie am Ortsrand war eines von zweien, die ohne Schäden blieben. Glück oder gute Bausubstanz? »Von beidem etwas«, sagt er. Sein eigenes Haus im Zentrum wurde vollständig zerstört, aber zumindest konnte er schon bald nach der Katastrophe weiterarbeiten. Hilfreich waren gute Kontakte, unter anderem zu Paraglidern in Deutschland. »Die sind jedes Jahr gekommen, auch direkt nach dem Erdbeben.« Manche sammelten in ihren Foren Geld für die Bewohner von Castelluccio.

Die Frage, wie es denn nun weitergeht und ob der Staat hilft, kommentiert er mit einer wegwerfenden Geste. »Die Menschen, die herkommen, sind die größte Hilfe für Castelluccio«, sagt er. Seinen Namen möchte er aber nicht in der Zeitung lesen. Warum, tippt er auf Italienisch in seinen Rechner und lässt die Worte von einem Programm übersetzen: Das Generalsanierungsprojekt für den Ort stehe unmittelbar vor der Genehmigung. »Danach wird das Dorf vollständig rekonstruiert. Zunächst Straßen und Fundamente, dann nach und nach die Häuser.« Bei den Verhandlungen waren Hausbesitzer wie er mit dabei, und mit dem Ergebnis ist er zufrieden. »Das ist gut für uns.«

Dennoch bleibt die Wut. Am Tag nach dem Beben hatte der damalige Premierminister Matteo Renzi hatte sein Mitgefühl ausgesprochen und schnelle Hilfe zugesichert. Dann geschah erst mal nicht viel. »Die Regierung hat unsere Steuern für eine gewisse Zeit gestoppt und uns ein wenig geholfen.« Gastwirte etwa bekamen eine Art Nothilfe. Aber: »Die meisten Anstrengungen haben wir unternommen, und dank der Touristen, die immer noch kommen, um die großartige Naturschönheit zu bewundern, können wir weiterhin arbeiten.« Als alle Provisorien aufgebaut waren, kam noch Corona hinzu. »Es war eine harte Zeit.«

Wie heftig die Erde in dieser Region mit ihrer komplexen Tektonik bebte, war sogar an den Bergen abzulesen. Ein Schaubild beim Wohnmobilparkplatz zeigt die Spuren am gegenüberliegenden Gebirgskamm. Der Cordone del Vettore, eine Art Bruchkante, zieht sich unterhalb der Gipfel entlang. Nach dem Beben, dem heftigsten in der Region seit über 40 Jahren, waren dort Verwerfungen von bis zu zwei Metern messbar. Kaum eine andere Gegend Europas ist so erdbebengefährdet wie der Apennin. Einfach nur wiederaufbauen wäre daher keine Lösung. Das Dorf sollen in Zukunft sogenannte seismische Isolatoren schützen - bewegliche Platten im Boden, die die Erschütterungen abfangen. Nächstes Jahr soll es losgehen.

Bis alles fertig ist, wird noch mancher Blick auf die Fotos von Castelluccio fallen, die in jedem Restaurant und jedem Laden hängen: ein wunderschönes Dorf auf einem Hügel, umgeben von Hochebenen und Bergketten, mal im Sommer, mal im Winter, meist im Frühsommer, wenn die Linsenfelder in allen Farben blühen. Und mit Kirchturm in der Mitte.

Kombinierbare Wandertouren um Castelluccio: Umbrien. Assisi - Lago Trasimeno - Nationalpark Sibillini. Rother Wanderführer.

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