Anker für die Reisenden

Migrantenhäuser säumen die Routen der Flüchtlinge in Mittelamerika. Oft sind sie überfüllt und bieten nur eingeschränkt Hilfe

  • Andreas Boueke, Guatemala-Stadt
  • Lesedauer: 7 Min.

Vor einer Metalltür im alten Zentrum von Guatemala-Stadt wartet eine Gruppe Migrantinnen und Migranten, Erwachsene und Kinder, eng gedrängt auf Einlass. Für die Sozialarbeiterin Carina Lopez sind solche Menschenansammlungen normal, auch jetzt in Zeiten von Covid. »Hier im Haus des Migranten haben wir die Erfahrung gemacht, dass die Pandemie die Menschen nicht davon abhält, ihre Heimat zu verlassen. Im Gegenteil. Viele sehen die Migration als Möglichkeit, ihr Überleben zu sichern.«

Das Coronavirus hat die schon zuvor schwachen Volkswirtschaften Mittelamerikas und der Karibik weiter ausgebremst, was viele Menschen unmittelbar zu spüren bekamen. »Eine Konsequenz der Pandemie war die Zunahme der Arbeitslosigkeit«, sagt Carina Lopez. »Wir helfen Menschen, die das Ziel haben, Mexiko und die USA zu erreichen. Die meisten sagen, sie machen sich auf den Weg, weil sie in ihrem Herkunftsland keine Arbeit und kein Einkommen haben.«

In manchen Monaten lassen mehr als hunderttausend Menschen alles in ihrer Heimat zurück, in der Hoffnung auf eine bessere Zukunft für sich und ihre Kinder. Das Ziel der meisten: die USA. In aller Regel führt ihr Weg durch Guatemala, die kleine Nation mit 18 Millionen Einwohnern an der Grenze zu Mexiko. In der Hauptstadt Guatemala-Stadt leitet der brasilianische Pater Mauro Verzeletti das Casa del Migrante, einen Zufluchtsort für Menschen in Not. »Seit Beginn der Pandemie entscheiden sich viele Familien in Honduras, El Salvador und Nicaragua zur Migration.« Die sozialen Konflikte in diesen Ländern hätten deutlich zugenommen, so seine Beobachtung. Genauso in Haiti. »In den vergangenen Monaten haben wir dreihundert Haitianer unterstützt«, erzählt er.

Familien werden in der Herberge bevorzugt aufgenommen. Gerade für Kinder sind die Migrantenhäuser wichtige Überlebensanker. In den verschiedenen Ländern Mittelamerikas ermöglichten sie den Migranten eine Pause, damit sie neue Kraft für die nächste Etappe schöpfen können, erklärt Pater Mauro: »Als Kirche bemühen wir uns, humanitäre Hilfe zu leisten, besonders jetzt in Krisenzeiten. Wir haben nicht die Möglichkeit, strukturelle Dinge zu ändern, aber im Sinne der Menschlichkeit versuchen wir, solidarisch zu sein. Am Samstag zum Beispiel haben wir hundertzwanzig Migrantenfamilien Tüten mit Nahrungsmittel gegeben.«

Der junge Mann Baptiste aus Haiti ist froh, dass er mit seiner Frau und seiner dreijährigen Tochter über die Schwelle der Eisentür treten darf. In dieser Nacht werden die Drei in einem sauberen Doppelstockbett schlafen. Auf dem Rücken trägt er einen kleinen Stoffrucksack, in dem fast das gesamte Hab und Gut der Familie verstaut ist. »Als Covid angefangen hat, hatte ich keine Angst, mich auf den Weg zu machen.« Er beschreibt seine Not: »In Haiti gibt es keine Arbeit, und das Leben dort ist sehr hart. Ich habe dort für meine Familie gekämpft, aber die Situation ist mies. Und es wird immer schlimmer. Wie soll man da überleben?«

Die meisten Haitianer und Mittelamerikaner verlassen ihre Heimat nicht primär aus Angst vor Verfolgung oder Gewalt. Deshalb haben sie - entsprechend der Genfer Flüchtlingskonvention - kein Recht auf Asyl. Manche nennen sie »Wirtschaftsflüchtlinge«, aber mit diesem Begriff kann Pater Mauro nichts anfangen: »Die Armut ist grausam und hart, hier in Mittelamerika ist sie besonders furchtbar.« Er nennt Beispiele von den Ampelkreuzungen, wo die Armut der Familien offensichtlich werde. »Da stehen sie und betteln, mit ihren weißen Flaggen. Kinder bitten um Nahrungsmittel. Die Armut hat ein Gesicht, Armut bedeutet Obdachlosigkeit, Armut zerstört das Leben der Menschen.«

Die Odyssee der haitianischen Migranten von ihrer karibischen Insel bis in die USA ist lang, strapaziös und gefährlich. Seit sich im Juli dieses Jahres mit der Ermordung von Präsident Jovenel Moïse die politische und wirtschaftliche Krise im Land vertieft hat, sind Zehntausende Flüchtlinge an der Küste von Kolumbien gelandet - weil sie wie Baptiste keine Perspektive mehr in ihrer Heimat sehen.

Viele versuchen zunächst, zu Fuß weiterzukommen, was beschwerlich ist, weil sie zunächst das sumpfige Urwaldgebiet Darién an der Grenze zu Panama durchqueren müssen, das dem Roten Kreuz zufolge eine der gefährlichsten Migrationsrouten der Welt ist. Baptiste erinnert sich, wie er tagelang über enge Pfade gelaufen ist. »Von Kolumbien aus kämpfen wir Haitianer uns da durch, genauso wie die Kubaner, die Venezolaner, die Afrikaner. Alle müssen dieselben furchtbaren Wege gehen. Es geht rauf und runter durch den Wald. Immer wieder mussten wir durchs Wasser waten, zusammen mit meiner Tochter und meiner Frau.«

Wem es gelingt, den Dschungel bis nach Panama zu durchqueren, kann mit Bussen weiter reisen, durch die Länder Costa Rica, Nicaragua, Honduras und Guatemala. »Du nimmst den Kampf auf, um weiter zu kommen«, meint Baptiste. »In jedem neuen Land ruhst du dich aus. Jetzt sind wir hier in Guatemala. Ich habe kein Geld mehr. Von meinen Angehörigen in den USA überweist mir niemand mehr Geld.«

Im Moment weiß Baptiste nicht, wie seine Familie weiterkommen soll. Zu Beginn der Pandemie waren die Grenzen in Mittelamerika offiziell monatelang dicht. Das habe aber die Migration nicht aufgehalten, weiß Pater Mauro. Trotz der geschlossenen Grenzen haben sich die Menschen dazu entschlossen, ihre Länder zu verlassen. »Viele haben ihre Arbeit verloren und sich mit anderen Migranten zu Karawanen zusammengeschlossen«, sagt Pater Mauro. »Weil die Not immer schlimmer wird, suchen die Leute gemeinsam Stellen, an denen sie die Grenzen ohne Kontrolle überschreiten können.«

Zurzeit durchqueren Zehntausende in Lumpen gekleidet die mittelamerikanischen Länder, deren Bevölkerung aufgrund der Pandemie selbst mit zunehmender Armut zu kämpfen hat. Ganze Wirtschaftszweige sind weggebrochen, sagt Pater Mauro: »Die Wirtschaftsleistung dieser Länder ist geschrumpft, aber die Regierungen haben wenig getan, um den sozialen Druck abzufedern. Wir machen uns Sorgen, dass am Rand der Migrationsrouten Rassismus und Diskriminierung gegen die Migranten zunehmen.«

Die oft dürren Haitianer schwarzer Hautfarbe sind in keinem der mittelamerikanischen Länder willkommen. Aus ihren glasigen Augen starrt oft der Hunger. Ihre Not ist sichtbar. Doch sie geben die Hoffnung nicht auf, dass es für sie bald besser wird. Wohl niemand von ihnen will in Guatemala bleiben. Nahezu alle sind fest entschlossen, auch Mexiko zu durchqueren, obwohl auf der Route dort mehr Gefahren auf sie warten als in allen anderen Ländern zuvor.

Baptiste weiß nichts davon, dass die US-amerikanischen Einwanderungsbehörden derzeit starken Druck auf Mexiko ausüben. In diesem Jahr wurden mehr haitianische Flüchtlinge in Mexiko aufgegriffen und abgeschoben als je zuvor. Er glaubt fest daran, das Land durchqueren zu können, auch wenn er kein mehr Geld hat: »Ich habe alle unsere Ersparnisse aufgebraucht. Jetzt reicht es nicht mehr, um nach Mexiko zu kommen«, sagt er. Mit der Pandemie sei zwar die Not immer schlimmer geworden, aber unterwegs habe er gelernt, auch ohne Geld zu überleben. Immer wieder nimmt er den Kampf um was zu essen auf. »Das Leben unterwegs ist hart«, meint er, »da mache ich mir nicht noch Sorgen wegen des Virus. Gott sei Dank war ich nie krank.«

Unterstützung erfährt er auf der Route durch Mittelamerika und Mexiko auf ein regelrechtes Netz von kirchlichen Migrantenhäusern. Sie sind für ihn Anker. Doch auch diese Orte der Menschlichkeit haben unter der Pandemie gelitten, erklärt Pater Mauro: »Wir sind abhängig von den Spenden der internationalen Gemeinschaft, von der Organisation für Migration, dem UNHCR und vom norwegischen Rat.« Doch auch diese Organisationen seien von der Pandemie betroffen und könnten nur noch wenige Mittel zur Verfügung stellen. »Das ist wie eine Kette«, erklärt Pater Mauro, »die dazu führt, dass die Migranten nur noch kurz in unserer Einrichtung bleiben dürfen. Wir können ihnen nicht mehr so lange helfen wie vor der Pandemie.«

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