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Ein Leben, unverputzt und kaputt

Renitente Körperlichkeit: Der serbische Film »Vater - Otac« zeigt, was übrig bleibt, wenn nichts mehr übrig bleibt

  • Stefan Gärtner
  • Lesedauer: 5 Min.

Eine verzweifelte Mutter steht auf dem staubigen Hof der Fabrik, die ihren Mann entlassen hat und ihm seit Jahren die Abfindung schuldet. Die Mutter hat ihre zwei Kinder dabei und eine Plastikflasche voll Benzin; sie droht, sich und die Kinder anzuzünden, vor Hunger. Die Leute auf dem Fabrikhof, stumm, können ihr nicht helfen; da schüttet sie die Flasche über sich aus und reißt ein Streichholz an. Kaum steht sie in Flammen, helfen ihr die Leute doch; sie überlebt, hat sogar Glück gehabt, und der korrupte Chef vom Jugendamt, der im Begriff ist, dem Vater die Kinder wegzunehmen und sich am staatlichen Pflegegeld zu bereichern, fragt ihn: Hatte ihre Frau psychische Probleme? Nein, sagt der Vater, wir sind arbeitslos und brauchen die Abfindung. Nächste Frage: Warum waren sie mit ihr nicht beim Arzt? Nächste Antwort: Ich musste arbeiten.

Der Film des serbischen Regisseurs Srdan Golubović gibt sich alle Mühe, auf die (bürgerliche) Psychologie zu pfeifen, die das gängige Kino bis in die Actionsparte hinein bestimmt: Was »Vater - Otac« ausmacht, ist Geld, das einer hat oder nicht hat. Nikola hat keins für sich und die Kinder. Er hat gerade so viel, um sein karges Häuschen für den Besuch vom Jugendamt etwas auf Vordermann zu bringen. Mittendrin geht ihm die Farbe aus, aber die Kinder sind ohnehin weg, denn wenn einer arm ist, kommt garantiert ein Reicher, der’s ausnutzt: »Du hast keinen Boiler!« - »Ich wusste nichts von einem Boiler.« - »Kauf deinen Kindern noch einen Computer. 21. Jahrhundert!«

Auf dem Amt, als klar ist, das Sorgerecht ist futsch, fällt Nikola nichts anderes ein, als sitzen zu bleiben und mit Hungerstreik zu drohen. Er, der Tagelöhner, hat nichts anderes einzusetzen als seinen Körper, und als er beschließt, sich persönlich beim Minister in Belgrad zu beschweren, fehlt ihm sogar das Geld für den Bus. Also läuft Nikola los, 300 Kilometer weit, durch eine struppige, verwahrloste Welt, die aussieht, als habe sie sich von den Menschen schon verabschiedet; auch die Wölfe sind schon da. Als sich ihm auf dem Gelände einer aufgelassenen Fabrik ein Hund beigesellt und, in der rührenden Solidarität der Kreatur, ein bisschen Nähe gegen ein Stück Brot eintauscht, liegt er am nächsten Morgen erschossen auf der Straße. Nikola versucht ihn, wie improvisiert immer, zu bestatten, denn Zivilisation beginnt damit, dass die Menschen ihre Toten begraben. Nikola, insinuiert der Film, der nicht nur hier an Cormac McCarthys Endzeitroman »Die Straße« (und seine Verfilmung) erinnert, ist der letzte Mensch, der letzte, der noch weiß, was das heißt. Streunende Hunde, streunende Menschen, streunende Kinder, tote Fabriken und leere Schulen: eine Apokalypse, in der noch das Licht brennt, und erst in Belgrad herrscht wieder Zivilisation, wenn auch eine, zu der natürlich nicht jeder Zutritt hat: »Du darfst dich nicht einfach vors Ministerium setzen.«

»Vater - Otac« ist reiner, nackter, wohltuender Materialismus, der nicht mit Lakonie verwechselt werden soll, denn die wäre schon wieder Kommentar, Überbau. Was hier spielt und worum es hier geht, ist die Basis. Keine Psychologie (oder allenfalls in den betretenen Blicken der Jugendamtsdame mit dem schlechten Gewissen), dafür eine Wirklichkeit, die so unverputzt und kaputt ist wie Nikolas Haus und so hart wie der Boden, auf dem er unterwegs schläft. Derart ungeschminkt wird das, was ist, zur Metapher seiner selbst und denunziert geradezu die neutestamentarischen Anspielungen, die der Film (wie sein Titel) macht: Nicht Gott hat diese Welt erschaffen, sondern diese Welt Gott, der nur die tröstet, denen Trost genügt. »Glaubst du an Gott?« will der frömmelnde Lkw-Fahrer wissen, und der Film bleibt so stumm wie sein Held, der kein Kreuz zu tragen hat, sondern den Tisch, den ihm die Nachbarn gestohlen haben und an dem sein Brot zu brechen nicht mehr heißt, als dass für die Wurst das Geld fehlt.

»Vater, warum hast du mich verlassen?« - viel profaner ist es Vater Staat, der sich auf dem postsozialistischen Balkan so verabschiedet hat, wie es für Nikola auf keinen Fall infrage kommt. Er wird in seiner Kreatürlichkeit renitent; dass er auf seiner Reise wo nicht mit Fuchs, so doch mit Hund und Hase auf Augenhöhe gelangt - grässliche Metapher, doch hier wird sie konkret -, stattet ihn mit einer ganz eigenen Souveränität aus, die sich zwar mit Twitter und Fernsehen verbünden muss, aber das Leben als erstnatürliches, darin widerständiges gegen jenes 21. Jahrhundert in Stellung bringt, das, die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, beileibe keins für die Mehrheit ist, auf dem serbischen Land schon gleich gar nicht.

Es ist, wie stets, ganz gleichgültig, dass die Geschichte wahr ist. Sie ist es trotzdem, und soweit Kunst nie Wirklichkeit ist, aber die Wirklichkeit in die Kunst gehört, haben wir es bei »Vater - Otac« mit einem Stück Filmkunst zu tun, das nicht plane Sozialkritik ist, sondern »Widerstand leben« dem Verdacht aussetzt, eine redundante Kitschformel zu sein. Denn Leben, das nicht Widerstand wäre, wäre das denn eines?

»Vater - Otac«: Serbien/Kroatien/Deutschland/ Frankreich 2020. Regie: Srđan Golubović, Buch: Srdan Golubović, Ognjen Sviličić. Mit: Goran Bogdan, Boris Isaković, Nada Šargin. 120 Minuten. Start: 2. Dezember.

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