• Kultur
  • Buchbeilage »Sinnvoll Schenken«

Ein Albtraum

Der dicke Junge hasst Frauen

  • Lesedauer: 9 Min.

Vielleicht ist dick nicht das richtige Wort, er ist eher pummelig. Ein weiches Kind, noch keine zwanzig Jahre alt. Aufgeregt hält er sich am schweren Bierkrug fest, schaut mit unsicherem Blick durchs Brillenglas, dann verkündet er, dass er Frauen hasst. Anfangs glaube ich noch, der dicke Junge sei nur betrunken oder frustriert vom Dicke-Jungen-Dasein oder agitiert von dem ganzen langen Abend aus Geschrei und Grausamkeit. Aber je länger er spricht, desto klarer wird, dass er es auch wirklich so meint. Er hat sich Gedanken über das Thema gemacht, hat dazu Texte gelesen und Statistiken studiert, seinen Hass unterfüttert. Der dicke Junge hasst Frauen aus Überzeugung. Und der Kerl neben ihm, ein breiter Bursche mit vernarbtem Gesicht und akkurater Frisur, lacht lang und laut und schlägt dem Jungen mit der flachen Hand so fest auf den weichen Rücken, dass der fast vornüberfällt: »So sieht’s aus, Kamerad«, dröhnt der Vernarbte, »du hast es begriffen!«

Die Tirade des Jungen war bei weitem nicht das Schlimmste, was ich an diesem Abend zu hören und zu sehen bekam. Aber das Bedrückendste. Es gab mir den Rest. Ich war in eine albtraumhafte Welt aus Hass und Alkohol geraten, und beides war ich in diesen rauen Mengen nicht gewohnt. Und vor allem hatte ich vorher nie diese Qualität von Hass erlebt. Sicher, man muss nicht in eine rechtsextreme Studentenverbindung gehen, um Rassismus und Frauenverachtung, Judenhass und Homophobie zu erfahren. Das findet man zur Genüge auch anderswo, das grassiert in der ganzen Gesellschaft. Aber dieser Hass hier war mir neu: eiskalt, rationalisiert und studiert. Ein Hass, der die Frauenverachtung des dicken Jungen absorbieren und befeuern konnte. Ein Hass, den ich immer noch in meinen Knochen spüre. Auch nach zehn Jahren noch.

Die letzten Männer des Westens

»Der westliche Mann wird unterdrückt und verweiblicht, er ist vom Aussterben bedroht.» So klingt der immer lauter werdende Kriegsschrei der Antifeministen, der zu einem Mantra der wieder erstarkenden Rechten geworden ist. Man hört ihn von hyperaggressiven Maskulisten und hasszerfressenen Internet-Hetzern, von testosteronverklebten Sexisten und neurechten Frauenhassern. Tobias Ginsburg hat sich ihnen ein Jahr lang undercover angeschlossen, um herauszufinden, wo diese Ängste und all der Hass herrühren.

Seine Recherche führt ihn quer durch Deutschland und das Internet, in die USA und nach Polen. Er trifft auf rechtsradikale Burschenschafter und faschistische Rapper, auf Online-Trolle und Offline-Schläger, Incels und Identitäre, lässt sich zum »wahren Mann-Sein« anleiten und begleitet muskelbepackte Neonazis bei der Rekrutierung junger Männer. Und schließlich stößt er auf ein international agierendes Netzwerk antifeministischer Fundamentalisten.

Eine so beklemmende wie komische Reise in eine zutiefst gefährliche Welt mitten unter uns.

Es war das erste Mal, dass ich mich bei Menschen einschlich, von denen man sich tunlichst fernhalten sollte. Mein erster Besuch bei wirklichen Faschisten, und schon begegneten mir ein entfesselter Männlichkeitswahn und Antifeminismus und Frauenfeindlichkeit. Kein Wunder, denn diese Dinge gehören zusammen. Sie sind integrale Bestandteile rechtsextremer Ideologie, unauflösbar miteinander verknüpft. Aber das begriff ich erst sehr viel später. Und leider gibt es noch immer sehr viele Menschen, die es nicht begreifen.

»Silentium!«

Das Kommando wird in den lärmenden Saal geschleudert, ein Säbel schmettert krachend auf den Tisch. Auf den Schlag verstummen die vierzig oder fünfzig Männer (in meiner Erinnerung sind es mehr), und diese vielen hundert Mann stellen ihre tausend Bierkrüge ab und erheben sich. Sie haben Studentenmützen auf dem Kopf und Narben im Gesicht, tragen dunkle Anzüge und Couleur, die Bänder in Verbindungsfarben quer über die Brust: Weiß-Lindgrün-Rosenrot. Sie stehen stramm und schauen bedeutsam. Es ist der Oktober 2009, und in ihrer Prunkvilla im Münchner Nobelviertel Bogenhausen feiert die Burschenschaft Danubia ihre Semesterantrittskneipe. Es ist eine ernste Angelegenheit, ein altes Ritual von Gehorsam, Gebrüll und Alkoholismus.

Der »Chargierte«, ein weichgesichtiger Lehramtsstudent mit Segelohren, leitet mit Befehlston und Säbelhieben durch den ersten, den offiziellen Teil des Abends. Wie albern waren er und die beiden anderen Vorsitzenden mir eben noch vorgekommen, verkleidet in ihren Vollwichs, dieser nostalgiedurchtränkten Aufmachung: goldverzierte Uniformröcke und Stulpenstiefel und buschige Federn, die halberigiert von den Mützen ragten. Die Narben in ihren Gesichtern, die Spuren des gemeinsamen Fechtens und Blutens hätte man auch für schlecht verheilte Akne halten können. Aber jetzt stehen sie vor den zigtausend Männern, ihre bescheuerten Schwerter in den Fäusten, und die Männer gehorchen ihnen. Der Chargierte lässt seine Brüder und Gäste aufstehen und hinsetzen, sprechen und schweigen, prosten und saufen, singen und grölen. »Müller an die Bierorgel!«, befiehlt er, und Bursche Müller hetzt zum Klavier, haut in die Tasten, nicht gut, dafür laut, und das alte Liedgut ertönt. Verse von blutiger Treue und geschlagenen Schlachten und von Deutschland, von Deutschland über allem. Halb wird gesungen, halb gebrüllt, die Fäuste trommeln auf die Tische, dass die Bierkrüge tanzen. Dann eine Ansprache, pathetische Parolen über Kameraden, Ehre und Volk. Darauf ein Prosit und auf das Bier einen Schnaps, dann wieder von vorne. Und auch in den Pausen, im Colloquium, wenn das freie Gespräch gestattet ist, trinken sie noch gierig weiter.

Im Grunde war ich bloß zufällig, während der Recherche zu einem Theaterstück, auf diese Burschen gestoßen - auf sie und auf ein ganzes Netzwerk rechtsextremer Burschenschaften, Organisationen und Strukturen. Auf Menschen, die mir und meinen Freund*innen das Existenzrecht absprechen. Unheimlich das alles, aber mich packte die Neugierde. Ich rief einfach mal an, auf gut Glück. Dass man mich einladen würde, damit hatte ich nicht wirklich gerechnet … Hat man aber. Ich bin nun mal ein Mann und ich bin weiß - und das reicht. Ich kann auch Orte betreten, an die man keinen Fuß setzen sollte. Für mich gibt es kaum No-go-Areas, und als deutscher Jude bin ich es sowieso gewohnt, mich zu assimilieren. Mit anderen Worten: Ich kann das, was mir Angst macht, aus nächster Nähe betrachten.

»Wo kommt denn der interessante Nachname her? Woher die Familie? Aha, und die Großeltern? Und politisch?« Während der Pausen werde ich von den Burschen belagert und ausgehorcht, aber meine Antworten scheinen zu gefallen. Nur von den Fotografien an den holzvertäfelten Wänden blicken die Danuben vergangener Zeiten grimmig auf mich herab. Ganz so, als hätten sie mich durchschaut.

Und dann ist da der Bursche aus Aachen. Ein Gast aus einer befreundeten Verbindung, ein riesiger Kerl, in meiner Erinnerung zwei Meter oder noch größer, vielleicht sogar zweieinhalb - nein das kann nicht sein … Die Details verschwimmen nach all den Jahren, als wäre alles nur ein böser Traum gewesen. Aber was er sagte, das habe ich noch immer ganz genau im Ohr: »Meine Herren, wir haben heute Abend einen Juden unter uns!«

Ich will an meiner Zigarette ziehen, aber kriege keine Luft. Das war’s, denk ich mir. Hier komm ich nicht mehr raus. Aus. Vorbei. Kaputtgehauen in einer Naziburschenschaft … Aber der Aachener Riese fletscht die Zähne zu einem breiten Grinsen und deutet auf den Chargierten: »Also, wenn das mal keine Judenohren sind, was?«

In meinem ganzen Leben habe ich nie wieder so sehr über einen Witz gelacht. Hoffentlich werde ich es auch nie mehr tun. Was für ein wunderbarer Witz! Judenohren! Ohren, so groß wie die von einem Juden! Spefuchs Günzburg ist entzückt - und die Burschen von ihm. Wir haben offenbar denselben Sinn für Humor. Darauf einen schönen Schluck Bier, und da schmettert auch schon der Säbel des Chargierten auf den Tisch - Silentium! Diszipliniert geht es weiter, Bier und Schnaps strömen in die Burschen hinein, Liedgut und Parolen gurgeln aus ihnen heraus.

Irgendwann ist der offizielle Teil überstanden, nach anderthalb oder zwei oder zwanzig Stunden, was weiß ich. Und nun begann das ungezwungene Beisammensein, nun quoll die wahre Gesinnung aus der kostümierten Burschenherrlichkeit. Erst sind es vereinzelte Widerlichkeiten. Ätzende Kommentare und pointenlose Witze über Schwarze Bundesligaspieler und Homosexuelle und den Islam, bald wird über die Geburtenraten von Migrant*innen gefeixt, dann auch schon der Holocaust geleugnet. Man hat sich jede Zurückhaltung weggesoffen. Ein gedrungener Bursche setzt sich neben mich und erklärt mir, dass es da draußen doch ohnehin bergab ginge. »Diese ganze bundesrepublikanische Gesellschaft ist längst verweichlicht«, tönt er und raunt vom Kreuzzug des Kulturmarxismus.

Dieser Begriff und sein Kreuzzug sind mir neu, aber der Gedrungene klärt mich gerne auf. Er berichtet mir von einem Komplott: »Im Grunde ist das der neue Kommunismus, aber auf Umwegen!« Die globale Linke wolle Nationen und Sitten auslöschen, die Werte von Familie und Männlichkeit. Und genau deswegen werde der Westen auch mit dieser ganzen linken Propaganda geflutet: Mit politischer Korrektheit und »Homolobby« und Feminismus. »In Wahrheit ist das alles nur Kulturmarxismus, ein Krieg gegen den Mann, die Familie, das Volk!« Auch daher sei die Burschenschaft, der wehrhafte Männerbund, eine der letzten Bastionen des Widerstands, erklärt er, und da wird auch schon das Gästebuch voll grotesker Judenkarikaturen herumgereicht, und irgendwer schreit irgendwas von Verschwulung. Es ist schwer erträglich, aber zum Glück ist da der dicke Junge.

Seine Anwesenheit beruhigt mich! Um uns herum werden Härte und Hass zelebriert - aber der Junge sitzt einfach nur ausdruckslos da. Um uns herum wird das Unsagbare gesagt - aber der Junge starrt nur so vor sich hin und knetet seine Finger. Undich bin ihm dafür so verdammt dankbar! Er sieht mindestens so unsicher aus, wie ich mich fühle. Verloren und ein bisschen dümmlich. Ich verstehe ihn! Als Einzigen hier: Das ist ein ganz armer Typ, denke ich, der will einfach irgendwo dazugehören!

Aber dann wacht er auf.

Gerade hat irgendein Bursche angefangen, über »die Weiber« zu lallen, die es wagten, mit nicht-arischen Männern zu schlafen - »Diese Kanakenweibchen!« - und dieser selten ekelhafte Ausdruck ist das Stichwort für den Jungen. Er blinzelt ein paarmal, dann legt er los. Er verkündet seinen Hass. Erklärt, dass Frauen biologisch dazu prädestiniert wären, mit den stärksten Männern zu schlafen und deswegen auch prädestiniert, ihr Land zu verraten. Er spricht vom Ende der traditionellen Familie, unterteilt Männer in Alphas und Betas, benutzt Wörter wie Hypergamie und Staatsfeminismus … Und ich verstehe nicht. Nicht ihn und kaum ein Wort, das er sagt. Ich sehe nur diese unermessliche Wut in seinem Blick und höre das einvernehmliche Lachen eines Burschen, vieler Burschen, das Lachen der vielen hundert Männer mit den tausend zerschnittenen Gesichtern …

Torkelnd fliehe ich aus dieser holzvertäfelten Parallelgesellschaft. Ich kann nicht mehr. Was für ein Wahnsinn, was für ein hasserfüllter Dreck! Ich bin zittrig, und ich schäme mich. Wie kann man nur in diesem Land leben, ohne zu wissen, wie heftig es unter der Oberfläche brodelt?

Nein, kein Grund zu Panik, beruhigte ich mich: Ich war bei Faschisten gewesen, beim Bodensatz der rechtsextremen Studentenverbindungen! In einem Haus, in dem Fascho-Prominenz ein und aus ging. In dem 2001 ein junger Neonazi untertauchen konnte, nachdem er einen Griechen um ein Haar totgeprügelt hatte. In einem Haus, das 1938 von den Nazis arisiert wurde - geraubt von einer jüdischen Familie, die sich ein paar Jahre später das Leben nahm, um der Deportation zu entgehen. Sicher, in einem so bösen Haus, da kann dieser Irrsinn über kulturmarxistische Verschwörer, aussterbende Familien und Staatsfeminismus gedeihen … Aber doch nicht hier draußen. Nicht bei uns!

Das dachte ich wirklich. Damit beruhigte ich mich und wankte durch die prachtvolle Münchner Villengegend. Damals. In einer Oktobernacht im Jahr 2009. Kurz bevor völkische Untergangsphantasien wieder Mainstream wurden, die extreme Rechte weltweit erstarkte und der militante Antifeminismus eine neue Qualität erreichte.

Tobias Ginsburg:
Die letzten Männer des Westens - Antifeministen, rechte Männerbünde und die Krieger des Patriarchats
Mit einem Vorwort von Günter Wallraff
336 Seiten, Paperback 16,00 EUR
ISBN: 978-3-499-00353-0 Erschienen im Verlag Rowohlt Polaris

Tobias Ginsburg, Jahrgang 1986, ist Autor und Regisseur. Er studierte Dramaturgie, Literaturwissenschaft und Philosophie. 2016 war er Fellow des Hanse-Wissenschaftskollegs, 2020 erhielt er das Grenzgänger-Stipendium der Robert-Bosch-Stiftung.

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