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  • »Strain, Crack & Break«

Die Liste als Traum

Plattenbau. Die CD der Woche. Seltsame deutsche Musik

  • Benjamin Moldenhauer
  • Lesedauer: 3 Min.

Ein absoluter Plattensammlertraum: Du machst eine Liste, auf die du ganz viele vor allem obskure Künstler schreibst, deren Alben in vielen Fällen kaum noch zu bekommen sind - und dann, erstaunlich genug, interessieren sich die Leute dafür. Noch besser: 42 Jahre nachdem du deine Liste gemacht hast, gilt sie als legendär, und ein Label bringt zwei Doppelalben mit einer Auswahl aus den Sachen raus, die du damals aufgeschrieben hast.

So etwas ist eigentlich nicht vorgesehen. Und trotzdem ist es passiert. Die Londoner Experimentalband Nurse with Wound veröffentlichte 1979 ihr erstes Album »Chance Meeting on a Dissecting Table of a Sewing Machine and an Umbrella« und legte eine Liste bei, die versammelte, was dem damals noch dreiköpfigen Unternehmen als bedeutsam für das eigene Schaffen erschien. Unter den 291 Einträgen findet sich Geläufiges (Velvet Underground, Can, Faust, Yoko Ono, erstaunlicherweise auch Floh de Cologne), vor allem aber Zeug, von dem die allermeisten noch nie gehört haben werden. Ich nenne stellvertretend für mindestens 200 andere auf der Liste nur Anal Magic and Reverend Dwight Frizzell.

Das Label Finder’s Keepers hat gemeinsam mit dem einzig verbliebenen Nurse-with-Wound-Mitglied Steven Stapleton unter dem Titel »Strain, Crack & Break« eine Auswahl aus der alten Liste auf zwei Doppelalben wieder veröffentlicht. Von den hier versammelten Künstler*innen, Bands und Projekten kannte ich drei - und eine davon auch nur dem Namen nach.

Der Titel bezieht sich auf eine Formulierung aus dem 1979 veröffentlichten Begleittext zur Liste: »Categories strain, crack and sometimes break, under their burden«, und tatsächlich ist das Merkmal, das alle 26 Komponist*innen und Bands der beiden Compilations verbindet, die Freiheit von Vorstellungen darüber, wie etwas richtigerweise zu klingen hat. Stattdessen klingt es halt immer anders.

Volume 1 von »Strain, Crack & Break« wurde bereits 2019 veröffentlicht und versammelte Musik aus Frankreich. Jetzt ist Volume 2 erschienen, der Fokus liegt auf sehr seltsamer deutscher Musik. Drei willkürlich herausgegriffene Beispiele: Exmagma spielen einen schön verpilzten Krautrock mit einem so exzessivem Dauersologeorgel im Vordergrund, dass es schon wieder nach Avantgarde klingt. Fritz Müller spielte, damals noch unter seinem bürgerlichen Namen Eberhard Kranemann, bei einer frühen Form von Kraftwerk Bass und gründete Ende der 60er die frei improvisierende Noiseband Pissoff.

Auf »Strain, Crack & Break« ist das Stück »Fritz Müller Traum« der Fritz Müller Band zu hören, Flächenmusik, die im letzten Drittel auf Klangterror umschaltet, mit Sirenen und Bombenalarm. Ambient aus Deutschland. Auch sehr toll: »The Executioner« von der sehr psychedelischen Hardrockband My Solid Ground, von der damals, 1971, niemand etwas mitbekommen hat. Schön, dass so etwas Seltsames 50 Jahre später noch eine adäquate Würdigung erfährt. Seltsamkeit und Eigensinn sowie Ideenreichtum bilden hier das Gemeinsame einer idiosynkratischen Sammlung von Außenseitermusik.

V/A: »Strain Crack & Break: Music From The Nurse With Wound List Volume Two (Germany)« (Finders Keepers)

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