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Wollt ihr die totale Achtsamkeit?

Jeja nervt: Juliane Reichelts Selbstverteidigung im »Zeit«-Interview

  • Jeja Klein
  • Lesedauer: 4 Min.

Julian Reichelt ist im Krieg. Zum ersten mal nach seinem Rauswurf bei »Bild« gab der Ex-Chef des rechten Blatts in der »Zeit« ein Interview. Auf Details zu den gegen ihn erhobenen Vorwürfen des sexuellen Machtmissbrauchs, der Benutzung von Untergebenen in zahllosen Affären, Lügen und der Schaffung eines sexistischen Arbeitsklimas ging er nur insofern ein, als dass er alles abstritt. Dafür drehte sich das Gespräch umso mehr um das Universum, in dem Reichelt lebt: »Woke-Wahnsinnige«, die Täter zum Vernichten bräuchten, damit sie selber Opfer sein könnten. Eine Blase aus Politik und Journalismus, gegen ihn verschworen, entfernt vom »Land« und der »Mehrheit« seiner Menschen. Die finde die Berichterstattung über ihn »abscheulich«. Und er, Reichelt, der es einfach nur liebe, die starke Stimme der Millionen gegen das »Establishment« zu sein. Ein »Held« wie der Anti-Nazi-Kämpfer Winston Churchill. Leute, ich denke mir das nicht aus!

Doch Reichelt scheint, eher wie Donald Trump, ein Problem mit der Wahrheit zu haben. So beschwert er sich über die Berichterstattung zu seinen Ungunsten. Doch auf den Hinweis der Interviewerin, kein Blatt stelle Menschen derart bloß wie »Bild«, behauptet er einfach, dass »das Gegenteil« wahr sei. Er selbst habe »schon vor Jahren« die Form des Journalismus, bei der »in die Privatsphäre von Leuten eingedrungen« werde, »beendet«. Ja, es geht immer noch um das Blatt, das die privaten WhatsApp-Nachrichten eines Überlebenden von fünf Kindstötungen durch deren Mutter einem zwölfjährigen Freund abknöpft und veröffentlicht.

JEJA NERVT

Jeja Klein ist eine dieser Gender-Personen aus dem Internet und nörgelt einmal die Woche an Kultur und Politik herum. dasnd.de/jejanervt

Auch die Vorwürfe des Machtmissbrauchs gegen ihn sind für Reichelt: »falsch«. Denn: Ihm seien solche nie vorgelegt worden. Dabei ist die Bewertung von Reichelts Verhalten gegenüber Praktikantinnen, Volontärinnen und Kolleginnen völlig unabhängig davon, ob eine der davon mutmaßlich Betroffenen dieses Wort nutzt. Genau so wenig hängt die Bewertung des durch Reichelts Sexualverhalten entstandenen Klimas und der Konsequenzen für die Auserwählten davon ab, ob sich eine davon als »Opfer« bezeichnet.

Doch Reichelt besteht auf diese Selbstbezeichnung, damit man von einem »MeToo-Fall« reden dürfe. Ansonsten sei es »Verleumdung«. Auch das Zitat eines Mitarbeiters, mit dem der »Spiegel« seine Recherche übertitelt hatte, wonach Reichelt nach dem Prinzip »Vögeln, feuern, fördern« agiert habe, sei »frei erfunden«. Warum? Reichelt könne sich schlicht »nicht vorstellen«, dass ein Kollege das gesagt haben soll. Immerhin sei es »vollkommener Unsinn«. Quod erat fucking demonstrandum! (»Was verfickt nochmal zu beweisen war!«)

Doch alle weiteren Vorwürfe gegen Reichelt, angeblich ebenfalls Unsinn, kann er sich sehr wohl vorstellen - sehr fantasievoll sogar. Die hätten nämlich gar nicht von ihm »als Mensch« gehandelt, sondern bloß der »Vernichtung und Auslöschung politischer Gegner« in der Migrations- und Coronapolitik gedient. Er könne sich darum auch gar nicht bei seinen Ex-Affären entschuldigen, wie die Interviewerin vorschlägt, schließlich wisse er ja nicht ein mal, bei wem und wofür.

Doch als das »Compliance«-Verfahren gegen Julian Reichelt, das ich in dieser Kolumne im März (»Compli-was?«) eine »männliche Begriffsstrategie« genannt habe, ihn zunächst gestützt hatte, wusste er sich sehr wohl zu entschuldigen. Er werfe sich »vor allem selber vor«, ließ er damals wissen, Menschen, für die er verantwortlich war, verletzt zu haben: »Das tut mir sehr leid.« War das etwa gelogen? Julian?

Reichelt hat sogar eine Fantasie, die einigen Genossen bekannt sein dürfte. Die »Compliance-Justiz« kenne »keine Unschuldsvermutung«, sondern die »Erwartungshaltung, dass man sich selbst belastet«. Aha! »Compliance«, wie es zunächst in allen Berichten statt »MeToo-Vorwürfe« hieß, ist also so eine Art Definitionsmacht der Rechten! Ein »totalitär anmutender Wandel links der Mitte«, wie Reichelt meint, angekommen bei Springer-Leuten, die »eine Gesellschaft der totalen Achtsamkeit wollen«. Gut für Rechte, dass wir DefMa-Drachen nichts von Copyright halten.

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