Geringer Verfolgungsdruck gegen Neonazis

Wieder ist die Zahl der per Haftbefehl gesuchten Rechtsradikalen angestiegen

Derzeit werden 596 Neonazis mit 788 Haftbefehlen gesucht. Das sind 137 untergetauchte Rechte und 186 offene Haftbefehle mehr. Dies geht aus der Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Linksfraktion hervor, die »nd« vorliegt. Laut dem Schreiben des Bundesinnenministeriums (BMI) von Ende Dezember lag nur einem offenen Haftbefehl »eine terroristische Tat zugrunde«. Um was es sich dabei handelt, ist dem Papier nicht zu entnehmen. Es enthält nur Daten, die das Bundeskriminalamt aus den Ländern erhält. 26 Haftbefehle ergingen wegen rechts motivierter Gewaltdelikte, bei denen es sich laut Ministerium überwiegend um Körperverletzungen und Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte handelt.

125 weitere Haftbefehle sind wegen sogenannter Propagandadelikte anhängig, darunter Volksverhetzung, Beleidigung und das Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen.

Die Linke-Bundestagsabgeordnete Martina Renner erklärte mit Blick auf die Zahlen: »Der aktuelle Höchststand von 788 Haftbefehlen, auch gegen Gewalttäter und solche, die sich offensichtlich problemlos ins europäische Ausland absetzen konnten, macht die Bedrohungslage greifbar.« Renner forderte angesichts der Entwicklung die neue Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) auf, ihren Ankündigungen, sich gegen Rechtsextremismus zu engagieren, Taten folgen zu lassen. Die Behörden müssten ihre Bemühungen intensivieren, die Auslieferung von Neonazis zu erwirken, die sich ins Ausland abgesetzt haben. Faeser hatte nach ihrem Amtsantritt - wie ihr Vorgänger Horst Seehofer (CSU) - betont, »im Moment« gehe die größte Gefahr für die innere Sicherheit »eindeutig vom Rechtsextremismus aus«.

Laut Antwort der Regierung ist die überwiegende Mehrzahl der Fälle »dem Bereich der Allgemeinkriminalität wie Diebstahl, Betrug, Erschleichen von Leistungen, Verkehrsdelikten und anderen zuzuordnen«. Bei mehr als 130 Haftbefehlen wegen nicht politisch motivierter Delikte ging es indes um Gewalttaten.

Der älteste der vom BMI aufgelisteten Haftbefehle gegen Rechte ist bereits seit zehn Jahren offen. Ein starker Anstieg der Zahl der untergetauchten Neonazis ist seit 2018 zu verzeichnen. In jenem Jahr meldete die Polizei in der Datei »Inpol-Z«, zusätzlich zu den Altfällen weitere 33 gesuchte Personen. 2019 erhöhte sich die Zahl um 77, 2020 um 94 und in diesem Jahr um 358.

Bei 87 der Gesuchten, von denen 22 deutsche Staatsbürger sind, gehen Polizei und Verfassungsschutz davon aus, dass sie sich im Ausland aufhalten. 13 von ihnen werden in Polen vermutet, elf in Österreich, sieben in der Schweiz und fünf in Rumänien. Mehrere Verschwundene könnten sich auch in weit entfernte Länder abgesetzt haben. So vermutet die Polizei zwei Personen in Afghanistan.

Bei dem vielfach auch wegen Gewaltdelikten vorbestraften Christopher F. kannten die Behörden bis November 2019 den Aufenthaltsort. F. hatte unter anderem 2016 im Erzgebirge einen Afghanen verprügelt und war deswegen zu einem Jahr Haft ohne Bewährung verurteilt worden. Anfang 2018 war er vorzeitig aus der Haft entlassen worden. Da er gegen Bewährungsauflagen verstoßen hatte, erwirkte die Staatsanwaltschaft Dresden einen Haftbefehl. F. war aber nicht auffindbar. Die Behörden erfuhren durch Zufall, wo er war: Im November 2018 hatte er in Kambodscha einem Mann den Motorroller gewaltsam gestohlen. Er dort von der Polizei gestellt, festgenommen und wohl zu einer Haftstrafe verurteilt worden. Wo genau er sich gegenwärtig aufhält, ist den deutschen Behörden nicht bekannt. In Deutschland müsste F. noch fünf Monate Haft verbüßen. Über seinen Fall hatte der »Tagesspiegel« berichtet.

237 Haftbefehle gegen Rechte wurden laut BMI von März bis September 2021 indes tatsächlich vollstreckt oder hatten sich erledigt, »zum Beispiel durch Zahlung einer Geldstrafe«. Oder sie waren schlicht verjährt, was das Ministerium jedoch nicht erwähnt. Das zeige, dass die Polizei die Fahndungen trotz Pandemie »mit Nachdruck und erfolgreich« durchführe, schreibt das Ministerium.

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