• Politik
  • Gasstreit zwischen Russland und der EU

Gasstreit: Moskau am Pranger

Die EU wirft Russland vor, die Verknappung von Lieferungen als »strategische Waffe« zu nutzen

  • René Heilig
  • Lesedauer: 6 Min.

Mitten in der kalten Jahreszeit steigen die Gaspreise in Europa auf neue Höchststände. Daran sei vor allem Russland schuld, weil es seine Lieferungen drosselte, heißt es. Zumindest spitzt sich die Energiekrise in Europa zu. Zum Jahreswechsel lag der Preis für eine Megawattstunde am TTF-Markt in den Niederlanden bei 222,23 Euro - ein neuer Spitzenwert.

Seit Anfang Dezember hat der Großhandelspreis für Erdgas um fast 80 Prozent zugelegt. Nach Darstellung von deutschen und EU-Politikern liegt das daran, dass der staatliche russische Konzern Gazprom nicht liefert. Präsident Wladimir Putin setze den Rohstoff als strategische Waffe ein, so die gängige Argumentation. Oder: Russland wolle nur die eigenen Speicher füllen. Ein anderes Argument: Mit den eingeschränkten Lieferungen wollten die Mächtigen in Moskau die Inbetriebnahme der Ostseepipeline Nord Stream 2 durchsetzen und gleichzeitig EU-Staaten dazu bewegen, sich im Konflikt Russlands mit der Ukraine neutral zu verhalten, statt für Kiew Partei zu ergreifen.

Am 21. Dezember stoppte Moskau tatsächlich seine komplette Gaslieferung nach Europa durch die Jamal-Pipeline, die durch Belarus und Polen nach Deutschland verläuft. Putin erklärte auf seiner Jahrespressekonferenz am 23. Dezember die Gründe dafür. Gazprom habe geliefert, was von den Geschäftspartnern im Rahmen ihrer langfristigen Verträge angefordert worden sei. Deutschland sei mit etwa 50 bis 51 Milliarden Kubikmeter pro Jahr der größte Abnehmer. Zusätzlich habe Russland im vergangenen Jahr 5,6 Milliarden Kubikmeter geliefert, also plus zehn Prozent. Dass nun durch die Jamal-Pipeline kein Gas in Richtung Deutschland fließe, erkläre sich simpel. Unternehmen, die den Rohstoff entlang dieser Leitung kaufen, hätten keine Bestellung abgegeben. Wieso also sollte Gazprom liefern, wenn es nicht einmal eine Kaufanfrage gebe?

Pipelinebetrieb im Rückwärtsgang

Gleichwohl ist die Pipeline nicht leer. Sie werde quasi »im Rückwärtsgang genutzt«, erklärte Putin. Derzeit werde Gas von Deutschland nach Polen gepumpt. Was, so die technische Logik, eine Gaslieferung in die andere Richtung ausschließt. Der russische Präsident äußerte auch noch einen Verdacht. Hinter den Lieferungen in Richtung Osten stecke mehr, meinte er. In Polen gebe es eine Leitung, die mit dem ukrainischen System verbunden sei. Diese könne rund drei Millionen Kubikmeter pro Tag transportieren. Das, so Putin, sei »genau die Menge, die Deutschland nach Polen liefert«.

Fake News, mag man denken. Doch dass von der Verdichterstation Mallnow in Ostbrandenburg Gas in Richtung Osten gepumpt wurde, bestätigt der deutsche Netzbetreiber Gascade. Das sei auch schon im November so gewesen. Die Durchflussmenge werde entsprechend den Kundenwünschen gesteuert, teilte das Unternehmen mit. Wer der Abnehmer des Rücktransports ist, bleibt ein Geschäftsgeheimnis. Die Aussagen Putins zum Gasstreit fanden in der deutschen Berichterstattung kaum Beachtung. Dementiert wurden sie von deutschen Regierungsvertretern aber auch nicht.

Auf noch etwas wies Putin hin: Deutschland erhalte das russische Gas dank langfristiger Verträge zu »drei-, vier-, sechs- oder sogar siebenmal niedrigeren Preisen als am Spotmarkt«. Wenn man auch nur eine Milliarde Kubikmeter Gas weiterverkaufe, verdiene man rund eine Milliarde Dollar, behauptete der Präsident und betonte, die Verbraucher in der EU hätten ein Recht, darüber Bescheid zu wissen. Sein Rat: Man solle sich wegen hoher Gaspreise an die zuständigen Behörden wenden. Auch so geht psychologische Kriegsführung. Und womöglich ist die in Moskau vorgestellte Gewinnrechnung auch nicht exakt, denn die Ukraine ist zwar in höchster Gasnot, zugleich jedoch pleite.

Wie bereits zu Sowjetzeiten gehört das Land noch immer zu den weltweit größten Gasverschwendern. Mindestens seit 2016 existieren in Kiew Programme zur Senkung des Verbrauchs, vor allem aber zur Steigerung der einheimischen Gasproduktion. Danach sollte UkrGasVydobuvannya - die staatliche Aktiengesellschaft ist der größte ukrainische Gasproduzent - bereits 2020 ein Produktionsniveau von 20 Milliarden Kubikmetern pro Jahr erreichen. Private Firmen versprachen, die Eigenproduktion auf 27,6 Milliarden Kubikmeter zu erhöhen. Tatsächlich produzierte UkrGasVydobuvannya 2020 nur 14,2 Milliarden Kubikmeter Gas. Die privaten Erzeuger steuerten knapp sechs Milliarden Kubikmeter bei. In den ersten zehn Monaten des Jahres 2021 sank die staatliche Produktion sogar um 4,5 Prozent. Der Jahresverbrauch liegt aber noch immer bei fast 30 Milliarden Kubikmetern.

Kiew weiter abhängig von Moskau

Das fehlende Drittel muss weiter hauptsächlich mit aus Russland importiertem Gas gesichert werden. Direkte Einfuhren aus dem verhassten Nachbarland würden jedoch die Souveränität der Ukraine gefährden, sagt die Regierung in Kiew. Die Führung des staatlichen Energieunternehmens Naftogaz, das ein Achtel des ukrainischen Bruttoinlandprodukts erwirtschaftet, sieht angesichts der zwischen Moskau und Kiew gespannten politischen Situation ebenfalls keine Chance für solide Geschäfte. Bereits seit 2015 kauft die Ukraine russisches Gas daher nicht direkt, sondern bei anderen europäischen Kunden Russlands. Die technische Lösung ist simpel: Die Ukraine behält einfach einen bestimmten Teil des Gases, das sie laut Transitvertrag von 2019 von Russland zur Durchleitung ins westliche Europa erhält.

Diese Quelle könnte rasch versiegen, wenn die Ostseepipeline Nord Stream 2 in Betrieb genommen würde, ist sich Mikhail Gonchar, Präsident des Zentrums für globale Studien Strategie XXI, sicher. Yuriy Vitrenko, der Chef von Naftogaz, widerspricht dem nicht.

Die Reduzierung der eigenen Gasproduktion in den kommenden zehn bis 15 Jahren sei »ein natürlicher Prozess«, meint Yuriy Korolchuk, Mitbegründer des Energy Strategies Fund. Die Gasfelder auf dem ukrainischen Festland sind zu 75 Prozent erschöpft. Selbst mit erheblichen Investitionen sei es unmöglich, die Produktion signifikant zu steigern. Zwar hat man unter dem ukrainischen Schwarzmeersockel reiche Lagerstätten erkundet. Doch die Kosten zur Erschließung der Felder seien immens und daher von der Ukraine allein nicht zu stemmen, sagt Korolchuk. Zudem ist das Schwarze Meer besonders nach der Einverleibung der Krim durch Russland keineswegs eine Zone des Friedens. Schnell könnten sich aus den Kriegsspielen, mit denen die Nato Russland immer wieder reizt, ernste Situationen ergeben.

Ukraine prüft neue Importquellen

Was also tun? Kiew prüft - mit der Bedrohung durch Nord Stream 2 im Nacken - neue Importquellen. Doch ergäbe es wenig Sinn, wenn man am Schwarzen Meer Flüssiggasterminals aufbauen würde. Die Türkei erlaube Flüssiggastankern nicht die Passage durch den Bosporus, betont Naftogaz-Chef Vitrenko. Er schaut in Richtung Ostsee und zeigt sich interessiert an einer engeren Zusammenarbeit mit Polen. Im Hinterkopf hat er, dass US-Unternehmen in Rekordgeschwindigkeit sowohl Produktion als Export von Gas steigern. Auch aus dem Nahen Osten könnten Gastransportschiffe in polnische Ostseehäfen gelenkt werden. Gerade wird ein Terminal in Świnoujście gebaut, ein weiteres entsteht bei Gdańsk. Polen ist zudem Endpunkt der Baltic Pipe aus Norwegen.

Doch damit Gas von der polnischen Ostseeküste in die Ukraine fließen kann, müsse ein neues leistungsfähiges Pipelinesystem gebaut werden, macht Vitrenko klar. Damit könne dann auch Gas aus Deutschland unkompliziert in sein Land gelangen.

Allerdings sieht sich der EU- und Nato-Mitgliedsstaat Polen bei aller verbalen Unterstützung für den »Abwehrkampf« der Ukraine gegen Russland für derartige Investitionen nicht in der Pflicht. Da warte man in Warschau wohl doch lieber auf EU-Gelder, mutmaßt der Naftogaz-Chef. Daher lautet die Frage: Was fließt eher - Geld aus Brüssel für alternative Infrastruktur oder Gas durch die Ostseepipeline Nord Stream 2?

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal