Werbung

»Wir werden die Monroe-Doktrin beerdigen«

Ex-Guerillero Néstor García über die kommenden Wahlen in Kolumbien und die Notwendigkeit lateinamerikanischer Integration

  • Andreas Knobloch
  • Lesedauer: 10 Min.

Vor 48 Jahren trat die Bewegung 19. April (M-19) erstmals auf die politische Bühne in Kolumbien. Nun beschlossen frühere Mitglieder der ehemaligen Guerillagruppe, sich zusammenzutun und die M-19 als politische Bewegung wiederzubeleben, um bei den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen 2022 mitzumischen. Wie kam es dazu?

Im Jahr 2020, inmitten der Pandemie, haben viele von uns wieder Kontakt aufgenommen, um zu erfahren, wie es den anderen geht. Wir haben uns im virtuellen Raum über Zoom oder Teams wiedergetroffen. Im Dezember 2020 sagten wir: »Hey, lasst uns die Rechtspersönlichkeit der Bewegung 19. April (M-19) anstreben«, und wir beschlossen, am 17. Januar 2021 zum Jahrestag der Wiedererlangung des Bolívar-Schwertes eine Gedenkveranstaltung zu organisieren. (Mit dem spektakulären Diebstahl am 17. Januar 1974, bei dem es gelang, eines der Schwerter des Befreiers Simón Bolívar aus dem Museum Quinta de Bolívar in der Stadt Bogotá zu stehlen, trat die Guerillagruppe Movimiento 19 de Abril das erste Mal an die Öffentlichkeit. Anm. d. Red.)

Wir hielten die Veranstaltung am 17. Januar 2021 virtuell ab und bildeten eine Gruppe, um die Rechtspersönlichkeit der Bewegung 19. April (M-19) anzugehen. Am 13. März 2021 hielten wir auf der Plaza Bolívar in Bogotá eine öffentliche Veranstaltung ab, auf der wir der Nation mitteilten, dass wir, eine Gruppe von Bürgern, die Bewegung 19. April (M-19), gebildet haben, um uns zu organisieren und im Parteiregister einzutragen.

Interview
Néstor García Buitrago ist Ökonom. Seit Ende 1974 war er bei der linken Guerilla Movimiento 19 de Abril (M-19) aktiv, 1979-81 insgesamt 32 Monate inhaftiert. Nachdem M-19 die Waffen niederlegte, wurde er 1991 als Abgeordneter für die aus der Guerilla hervorgegangene Partei Demokratische Allianz M-19 (Alianza Democrática M-19) in den Kongress gewählt. Mit García sprach für »nd« Andreas Knobloch.

Und dann haben wir die ganze Kampagne gestartet, um Unterschriften zu sammeln - von April bis Ende des Jahres. Als wir am 13. Dezember mit den Unterschriften beim Parteiregister ankamen, wurden sie nicht angenommen, weil wir keine Police bezahlt hatten. Als wir sie bezahlen wollten, stellte uns die staatliche Versicherungsgesellschaft 140 Millionen Pesos (umgerechnet rund 31 000 Euro, d. Red.) in Rechnung. Wir haben eine Schutzklage eingereicht, weil wir diese Höhe für absurd, undemokratisch und sehr unehrenwert hielten.

Die M-19 hatte sich schon einmal als politische Organisation konstituiert. Nach ihrer Demobilisierung am 8. März 1990 wurde die Guerilla M-19 unter dem Namen Alianza Democrática M-19 (AD-M-19) zu einer politischen Bewegung und war eine der wichtigsten politischen Kräfte in der Verfassunggebenden Versammlung 1991. Warum trat die M-19 von der politischen Bühne wieder ab?

Schon in den 1990er Jahren gab es Angriffe auf den legalen Status der M-19. Um die Jahrtausendwende wurde der M-19 ihr legaler Status endgültig entzogen, weil sie keine Sitze im Kongress oder die nötige Mindestanzahl an Stimmen erreicht hatte. Dabei blieb es bis jetzt.

Einige ihrer ehemaligen Mitglieder wie Gustavo Petro, der in den Umfragen für die Präsidentschaftswahlen im Mai vorne liegt, schlossen sich dem als Polo Democrático Alternativo bekannten Linksbündnis an, andere gründeten die Partei Opción Centro (heute Alianza Verde). Warum kam die Idee, die Bewegung 19. April wiederzubeleben, gerade jetzt - nach mehr als 20 Jahren?

Wir sind der Meinung, dass M-19 noch etwas beizutragen hat und erreichen kann. Es gab viele Dinge, die unvollendet geblieben sind. Die Entscheidung war also, dem nachzukommen, und wir begannen - wie es in einer Demokratie üblich ist - uns zu formieren, indem wir unseren Rechtsstatus beantragt haben. Wir widmeten das ganze Jahr 2021 der Unterschriftensammlung.

Wie lief die Unterschriftensammlung ab? Als M-19 Unterschriften auf der Plaza de Bolívar vor dem Justizpalast zu sammeln - hat das nicht negative Reaktionen hervorgerufen? Schließlich kam es am 6. November 1985 zur Besetzung des Justizpalasts durch die Guerillagruppe. Das Gebäude wurde schließlich von der Armee gestürmt, dabei starben Dutzende Menschen. Das ist in Kolumbien unvergessen und hat die M-19 in Misskredit gebracht.

Ich will nicht leugnen, dass es die eine oder andere Stimme der Ablehnung gab: Guerilleros! Entführer! Aber die waren in der Minderheit im Vergleich zu den Stimmen der Unterstützung. Wir haben rund 70 000 Unterschriften gesammelt, auf offener Straße, auf den zentralen Plätzen in ganz Kolumbien. Wir sind bei dieser landesweiten Unterschriftensammlung mit unserer M-19-Fahne und unseren Symbolen ganz offen aufgetreten. Die Menschen brachten ihre Wertschätzung zum Ausdruck. Sie kamen und fragten, worum es geht - sie wissen, dass es die M-19 ist, weil sie die Fahnen sehen -, und einige baten uns sogar um Formulare, um sie mit nach Hause zu ihren Familien zu nehmen, auf die Arbeit, in ihre Gewerkschaft oder ihre Kooperative, um uns zu helfen, weitere Unterschriften zu sammeln. Und das passierte massiv und landesweit.

Es gab viel Empathie vonseiten der Bevölkerung gegenüber der M-19. Heute noch wird anerkannt, dass wir eine Organisation sind, die die Waffen niedergelegt hat, die ein Friedensabkommen geschlossen hat, das wir erfüllt haben - und das, obwohl nach der Niederlegung der Waffen Carlos Pizarro Leongómez, unser damaliger oberster Führer, ermordet wurde. Und nun wollen wir an der Demokratie teilhaben und wieder eine politische Organisation mit Rechtspersönlichkeit sein.

Die M-19 lebt wieder, es fehlt nur der Rechtsstatus?

Ja. Wir existieren, wir sind da, wir treffen uns, wir diskutieren, aber uns fehlt der formale Rechtsstatus, um in den Gemeinderäten, in den Versammlungen, in den Bürgermeisterämtern, in den Gouverneursämtern und im Kongress der Republik und - warum nicht - auch im Präsidentenamt der Republik vertreten zu sein.

Wie soll es mit der Etablierung der Bewegung nun weitergehen?

Das kolumbianische Recht sieht vor, dass die Rechtspersönlichkeit nur dann gegeben ist, wenn man an den Kongresswahlen teilnimmt. In Kolumbien gibt es keine Rechtspersönlichkeit für die Teilnahme an Kommunalwahlen, denen für Stadträte, Gouverneure, ja nicht einmal für Präsidentschaftswahlen. Wir müssen also an den Kongresswahlen teilnehmen, und die sind am 13. März 2022. Wir haben bereits die Liste der Kandidaten für den Kongress. Es sind 61 Kandidaten - 27 Frauen und 34 Männer - die bei den Wahlen am 13. März teilnehmen wollen. Aber bis heute wissen wir nicht, ob wir teilnehmen können, weil wir die überhöhte Police nicht bezahlt haben, weil wir nicht das Geld haben, um sie zu bezahlen. Mit der Schutzklage wollen wir eine angemessene Höhe der Police erreichen.

Wer sind heute die Bewegung 19. April (M-19) und ihre Unterstützer?

Die Älteren zeigen ihre Sympathie, ihre Unterstützung, sie unterschreiben, aber es sind vor allem die neuen Generationen, die uns unterstützen. Universitätsstudenten, die die politische Geschichte Kolumbiens kennen, die die Geschichte der Guerillabewegungen, wie die M-19, studiert haben, sprechen uns an und freuen sich offen, uns auf der Straße zu treffen. Das heutige Wachstum der Bewegung 19. April (M-19) ist vor allem den neuen Generationen zu verdanken, denn die Guerilla-Militanz von damals ist heute verblasst.

Zum Zeitpunkt der zehnten Konferenz in Santo Domingo, Cauca, im Oktober 1989, als wir den kollektiven Beschluss fassten, die Waffen niederzulegen, waren wir weniger als 1000 Mann unter Waffen. Wir waren eine relativ kleine Organisation - klein in Bezug auf die Zahl der Bewaffneten -, aber wir waren die Mehrheitsbewegung in der Verfassunggebenden Nationalversammlung von 1991. Eine Million Bürger haben uns bei der Wahl zur Verfassunggebenden Versammlung ihre Stimme gegeben und mit diesen Stimmen haben wir die Verfassung von 1991 auf den Weg gebracht, die heute den Rahmen setzt.

Welche Rolle möchte Ihre Organisation im politischen Leben Kolumbiens künftig spielen?

Was wir jetzt erleben, ist eine Suche, eine Wiedervereinigung der Nation mit der M-19 - und deshalb ist die Rechtspersönlichkeit nicht für die M-19-Guerilla von damals, sondern für die Nation, für die Demokratie, für die neuen Generationen. Keiner der damaligen Führer der M-19 ist heute Kandidat. Wir machen das nicht wegen oder für uns. Es geht nicht um uns, es geht nicht darum, selbst gewählt zu werden - ich bin kein Kandidat -, die Kandidaten sind soziale Aktivisten, Führer des ländlichen Kolumbien.

Sie haben nie das Recht ausüben können, gewählt zu werden. Sie waren immer nur da, um zu wählen, aber nicht, um selbst gewählt zu werden. Sie sind jetzt die Kandidaten der Bewegung 19. April von heute, nicht die Guerilleros von gestern.

In diesem Jahr stehen neben den Kongresswahlen auch Präsidentschaftswahlen an - mit Gustavo Petro hat ein linker Kandidat und Ex-Guerillero der M-19 gute Chancen, Präsident zu werden …

Zwischen der M-19 und Gustavo Petro besteht eine sehr enge Beziehung, da er ein Kämpfer der M-19 war und 1991 für die Alianza Democrática M-19 in den Kongress gewählt wurde, zur gleichen Zeit, als auch ich gewählt wurde. Doch die Alianza Democrática M-19 löste sich auf und änderte ihren Namen in Opción Centro und dann Alianza Verde. Die heutige Alianza Verde, die das Amt des Bürgermeisters in Bogotá, Cali und Manizales innehat und eine Reihe von Kongressabgeordneten stellt, ist ein Produkt der Alianza Democrática M-19 von 1991. Aber Teile der M-19 haben sich 1997 von der Alianza Democrática distanziert, unter anderem der M-19-Mitbegründer Germán Rojas Niño und ich.

Aber Sie unterstützen Gustavo Petro 2022 dennoch?

Ja. Gustavo Petro ist heute der Präsidentschaftskandidat der Allianz Colombia Humana. M-19 ist nicht Teil von Colombia Humana, unterstützt aber die Präsidentschaftskandidatur von Gustavo Petro.

An der Abstimmung zum Historischen Pakt »Colombia Puede« (Kolumbien kann es schaffen, d. Red.) hat die M-19 nicht teilgenommen. »Colombia Puede« ist eine politische Koalition, die sich aus Parteien und sozialen Bewegungen mit progressiven, sozialdemokratischen und sozialistischen Ideologien zusammensetzt, unter anderem Colombia Humana, Unión Patriótica, Partido Comunista Colombiano und viele andere Kräfte des linken Spektrums. Warum nicht die M-19?

Manche denken, wir sind eine Dissidenz zum Pacto Histórico - nein, wir sind mit Gustavo Petro. Wir haben an der Abstimmung über den Präsidentschaftskandidaten des Pacto Histórico nicht teilgenommen, weil wir keine Rechtspersönlichkeit haben. Solange können wir als Bewegung 19. April nicht formal Teil des Pacto Histórico werden.

Welche Akzente will die M-19 im Kongress setzen, wenn es mit der Zulassung klappt?

Wir wollen die Organisation sein, die für Demokratie und soziale Gerechtigkeit kämpft. Wir haben eine legislative Agenda, für die wir eintreten werden. Wenn wir in den Kongress kommen, werden wir zuerst den Frieden für Kolumbien vertiefen, den Frieden, der heute so sehr in Gefahr ist. Unsere Gesetzesvorschläge haben auch viel mit Ernährungssicherheit und Ernährungssouveränität zu tun. Dafür müssen wir das Landproblem in Kolumbien lösen, die Agrarreform durchführen. Dies ist einer der wichtigsten Punkte, Punkt Nummer zwei des Friedensabkommens von Havanna, das 2016 mit der Farc-Guerilla geschlossen wurde. Im Kongress werden wir für den Frieden, für Land, für Arbeit und für die Umwelt kämpfen. Wir kämpfen für Nachhaltigkeit. Es ist eine legislative Agenda, die auch an die nächsten Generationen denkt.

Und Sie sind optimistisch, dass die M-19 den Rechtsstatus erhält?

Wir wissen, dass wir es schaffen werden, und wir werden nicht nur einen Historischen Pakt in Kolumbien, sondern einen historischen Block haben. Wir sollten schauen, was in Bolivien, in Chile, in Honduras geschieht - Lula kehrt vielleicht in Brasilien zurück - , wir sollten uns dem anschließen, was sie in der Patria Grande, in den ALBA-Ländern Venezuela, Nicaragua, Kuba tun. Die M-19-Bewegung ist bolivarisch und das ist unsere Heimat. Die Integration der lateinamerikanischen Gemeinschaft ist ein Mandat der Verfassung von Kolumbien. In der Präambel heißt es: Die Integration der lateinamerikanischen Gemeinschaft ist obligatorisch. Und wir werden die Monroe-Doktrin beerdigen, die im kommenden Jahr 200 Jahre alt wird. (Die seit 1823 geltende und 1904 von US-Präsident Theodore Roosevelt weiterentwickelt Monroe-Doktrin verankerte den Anspruch der USA, in Lateinamerika nach eigenem Ermessen zu intervenieren. Anm. d. Red.) Die Bewegung M-19 will Protagonist sein und sie will sichtbar sein. Aus diesem Grund kehren wir in den Kongress zurück. Das ist unsere Aufgabe, unser Auftrag.
Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal