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  • Klimabürger*innenrat Berlin

Ein ehrliches Bild zum Klimaschutz

Einladungen zum Bürgerrat sind verschickt - Gremium soll Empfehlungen für die Politik erarbeiten

  • Nicolas Šustr
  • Lesedauer: 4 Min.
Die Wärmewende wird ein dickes Brett: In Berlin werden aktuell für die Wärmeerzeugung zu 80 Prozent fossile Energieträger genutzt – wie beim Heizkraftwerk Klingenberg Gas.
Die Wärmewende wird ein dickes Brett: In Berlin werden aktuell für die Wärmeerzeugung zu 80 Prozent fossile Energieträger genutzt – wie beim Heizkraftwerk Klingenberg Gas.

Ein »schöner Anlass« sei es, den »Startschuss für einen Klimabürger*innenrat« zu geben, sagt Klimaschutzsenatorin Bettina Jarasch (Grüne) bei einer Online-Pressekonferenz am Donnerstag. 2800 Einladungsschreiben an per Zufallsverfahren aus dem Einwohnermelderegister ausgewählte Berlinerinnen und Berliner ab 16 Jahren sind nun verschickt. 100 von ihnen sollen letztlich dem Rat angehören, der seine Arbeit voraussichtlich Ende April aufnehmen wird. Der Rat soll insgesamt neunmal tagen, Themen sind insbesondere die Bereiche Mobilität, Gebäude und Energie. Ergebnisse werden für Ende Juni erwartet. Ein »innovatives Format der konsultativen Demokratie« sei das, so Jarasch. Es sollen also Empfehlungen ausgesprochen werden.

Die Senatorin hofft auf »Rückenwind für einen möglichst radikalen, raschen Klimaschutz in der Stadt«. »Ich bin davon überzeugt, dass die meisten Bürgerinnen und Bürger weiter sind als die Politik«, fügt sie hinzu und spricht auch den »neuralgischen Punkt« an: »Was macht die Politik mit den Empfehlungen?« Der Klimaausschuss des Senats sowie das Abgeordnetenhaus werden sich damit befassen, kündigt sie an. Es gebe »keinen Automatismus«, dass Vorschläge übernommen würden. Wenn dies allerdings nicht geschehe, sei das »begründungspflichtig«.

Für die konkrete Organisation des Klimarates ist das Berliner Institut Nexus zuständig. Dort hat man sich viele Gedanken gemacht, wie ein möglichst repräsentativer Querschnitt der Bevölkerung rekrutiert werden kann. Nach erfolgten Rücksendungen sollen aus allen Interessierten per Algorithmus 100 Personen ausgewählt werden, die nach den Kriterien Alter, Geschlecht, Bildungsabschluss, Wohnbezirk und Migrationserfahrung die Bevölkerung der Hauptstadt am besten repräsentieren.

»Die Erfahrung ist, dass nicht alle gleichmäßig die Einladung annehmen«, sagt die Nexus-Bereichsleiterin Bürgergesellschaft, Christine von Blanckenburg. Gerade Menschen mit niedrigem Bildungsabschluss oder auch mit Migrationshintergrund sind meist in solchen Runden unterrepräsentiert. Einerseits würden bei den online oder telefonisch erfolgenden Rückmeldungen der Eingeladenen solche Angaben, die sich nicht im Einwohnermelderegister finden, abgefragt. Andererseits hake man auch in Gebieten mit laut Sozialstrukturatlas niedrigen Indikatoren noch einmal besonders nach.

Weil das Gremium online tagt, soll im Zweifelsfall auch die dafür nötige Technik gestellt werden, inklusive entsprechender Hilfen bei der Bedienung. Zudem soll eine Aufwandsentschädigung in Höhe von 350 Euro die Motivation steigern. »Der Zeitaufwand ist beträchtlich«, räumt von Blanckenburg ein. Rund 35 Stunden kommen zusammen, der Mindestlohn wird also nicht erreicht.

Das Verfahren soll großteils im »geschützten Raum« ablaufen, also keiner breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Über alle Empfehlungen der Einzelgruppen wird noch einmal im Abschlusstreffen beraten. Dann werde »ganz normal demokratisch« abgestimmt, so von Blanckenburg. »Diese Ergebnisse werden dann veröffentlicht, auch, mit welchen Mehrheiten das jeweils angenommen wurde.«

Für die wissenschaftliche Begleitung und Beratung ist das Potsdamer Institut für transformative Nachhaltigkeitsforschung zuständig, bekannter unter seiner englischen Abkürzung IASS. »Es ist notwendig, zwischen Fake News und Real News zu differenzieren«, also Gerüchte und Fakten zu unterscheiden, sagt Ortwin Renn, wissenschaftlicher Direktor des IASS. Andererseits gehe es auch darum, »die wissenschaftliche Bandbreite des Wissens zu repräsentieren«. Auch dort gebe es »Optionen und Unsicherheiten«.

Das Faktenwissen des Instituts soll auf das Alltagswissen der Menschen heruntergebrochen werden, die Diskussion anhand konkreter Beispiele erfolgen. »Wenn wir alle Wege unter fünf Kilometer mit dem Auto sein lassen würden, könnten wir 17 Prozent der fossilen Energie im Straßenverkehr einsparen«, nennt Renn eines. Die Wissenschaft könne nicht entscheiden, sondern nur »sagen, was folgen wird, wenn man A, B oder C tut«.

Das Ziel des Rates formuliert Christine von Blanckenburg so: »Die Politik braucht ein ehrliches Bild von der Bevölkerung.« Das sei woanders bereits gelungen, sagt Ortwin Renn. In Frankreich sei durch die Gelbwesten-Bewegung der Eindruck entstanden, die Bevölkerung wolle nicht mehr Klimaschutz. Der dortige, per Zufallsauswahl zusammengesetzte Klimarat habe jedoch gezeigt, »dass sehr ambitionierte Klimamaßnahmen sehr gewollt sind«.

Die Einrichtung geht auf die erfolgreiche Volksinitiative von Klimaneustart Berlin zurück. »Wir freuen uns sehr, dass es jetzt mit dem Bürger*innenrat losgeht, den wir gemeinsam mit über 32 000 Berliner*innen gefordert haben«, sagt Felix Nasser, Mitinitiator und Vertrauensperson von Klimaneustart Berlin. »Es sollte sichergestellt werden, dass die Handlungsempfehlungen nicht in der parlamentarischen Schublade verschwinden«, betont Cornelia Auer, Vertrauensperson und Wissenschaftlerin am Potsdam Institut für Klimafolgenforschung.

Ferat Koçak, Klimaexperte der Linksfraktion, freut sich über den Start des Bürger*innenrates. Er gehe davon aus, dass dieser »Zielkonflikte thematisiert und Vorschläge für ein klimaneutrales Berlin erarbeitet, die sowohl ambitioniert als auch sozial gerecht sein werden«.

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