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Das Beispiel Klum

»Germany’s Next Topmodel« entdeckt die Diversität - warum dies kein Grund zur Freude ist

  • Frank Jöricke
  • Lesedauer: 7 Min.

Früher, in den schlechten alten Zeiten, fiel es leicht, Kapitalisten zu hassen. Kinderarbeit, Hungerlöhne, Werktage von bis zu 14 Stunden - es gab genügend Gründe, Kommunist zu werden oder wenigstens Gewerkschafter. Kapitalisten waren Ausbeuter, Menschenschinder und im schlimmsten Fall Sadisten.

Bei etwaigen Zweifeln genügte es, sich den Lebenslauf des mächtigsten westdeutschen Kapitalisten der 70er Jahre, Hanns Martin Schleyer, zu Gemüte zu führen. Als Arbeitgeberpräsident und Vorsitzender des Bundesverbands der Deutschen Industrie war er ein entschiedener Gegner der Gewerkschaften. Von betrieblicher Mitbestimmung hielt er nicht viel. Und von Juden noch weniger. Schon 1931 war er in die Hitlerjugend, 1933 in die SS eingetreten. Im Zweiten Weltkrieg betrieb Schleyer als SS-Offizier in der besetzten Tschechoslowakei die sogenannte Arisierung der Wirtschaft und beschaffte Zwangsarbeiter für das Deutsche Reich. So gab er für Linke das perfekte Feindbild ab. Auch für die RAF, die ihn 1977 entführte, um ihre Gründungsmitglieder aus der Haft freizupressen. Doch der Staat blieb hart, und die Entführer ermordeten Schleyer.

Heutige Kapitalisten sehen ganz anders aus. Zur gleichen Zeit, als Hanns Martin Schleyer Arbeitgeberpräsident war, gründete ein 21-jähriger US-Amerikaner im fernen San Francisco ein Unternehmen, das heute mit einem Börsenwert von über 2 Billionen US-Dollar das gigantischste der Welt ist. Und - fragt man seine Kunden - auch das coolste. Das liegt natürlich an Produkten wie dem iMac und dem iPhone. Es liegt aber auch an der Aura, die sich bis heute um den verstorbenen Apple-Gründer Steve Jobs rankt. Dieser hatte so gar nichts mit dem typischen wohlbeleibten Firmenchef im Anzug zu tun.

Doch es war nur nicht der fehlende Schlips, wodurch er sich abhob. Steve Jobs erkannte, dass Geld und Druck nicht die einzigen Mittel waren, um Angestellte zu mehr Leistung anzuspornen. Ein Mitarbeiter, der sich vorbehaltlos mit seinem Unternehmen identifiziert, ist eher bereit, unbezahlte Überstunden zu machen als ein gefrusteter. Dabei hilft es, die Grenzen zwischen Pflicht und Kür - zwischen Arbeit und Freizeit - verschwimmen zu lassen. »Ist alles so schön bunt hier!«, diese Nina-Hagen-Zeile trifft nicht nur auf die ersten iMac-Rechner aus dem Jahr 1998 zu, sondern auch auf die Firmensitze der New Economy. Statt der Betriebskantine mit Krankenhaus-Charme gibt es bei Google, Meta (Facebook), Apple und Amazon gemütliche Gemeinschaftsküchen und farbenfrohe Sofaecken.

Doch das eigentliche Symbol für diese neue Arbeitswelt ist der Kicker in Werbeagenturen. Beim Tischfußball mit dem Vorgesetzten vergisst die Belegschaft, dass das Spiel nicht in einer verräucherten Gastwirtschaft stattfindet, sondern an einer Produktivstätte der Betriebswirtschaft. Und die spätabendliche Lieferdienstpizza »auf Kosten des Chefs« verschleiert, dass die Angestellten diese durch ihre unentgeltliche Mehrarbeit bereits doppelt und dreifach bezahlt haben.

Der Kapitalismus hat dazugelernt, und nirgendwo ist er so lernfähig wie in den Fremdschäm-Shows des Fernsehens. Zum Beispiel bei »Germany’s Next Topmodel« (GNTM), dem Durchlauferhitzer der C-Promis von morgen. Vorbei die Zeiten, als Barbie-Püppchen mit zu niedrigem Body-Mass-Index um eine imaginierte Modelkarriere wetteiferten. Heute beugen sich Seniorinnen, trans Frauen, Narbenopfer, Mollige, Nerds mit neonfarbenen Haaren sowie Frauen jeder Couleur und Herkunft der Knute Heidi Klums. »Divers« ist das neue »magersüchtig«. Vor lauter Begeisterung darüber, dass Gender, Gewicht und Hautfarbe keine Rolle mehr spielen sollen, wird das Entscheidende übersehen: Menschenverachtung ist wieder salonfähig. Mit einem Mal ist es akzeptabel, dass Leute vorgeführt, bloßgestellt und erniedrigt werden, solange die Diversität gewahrt wird. Diskriminiert wird hier keine - Heidi behandelt alle wie Dreck.

Zugleich inszeniert sie sich öffentlichkeitswirksam als Freundin und Coach, die »nur das Beste« für ihre Model-Azubis will. Auch das passt ins Bild. Der Kapitalist von heute möchte als Verbündeter erscheinen - nicht als Diktator oder Patriarch. Er will als »nice« und jovial, als Primus inter pares wahrgenommen werden. Deshalb redet er gern von »flachen Hierarchien« und inszeniert sich als Visionär, der mit seinen Produkten und Dienstleistungen eine bessere Welt erschafft.

Das ist auch bitter nötig. Es hätte nicht der Studie des Club of Rome 1972 bedurft, um zu erkennen, dass »die Grenzen des Wachstums« längst überschritten worden waren. Der Raubbau an der Natur, vergiftete Flüsse, verpestete Luft - die Folgen des rücksichtslosen Profitstrebens waren schon vor Jahrzehnten offensichtlich. Sogar an der Fleischtheke wurden einem die Konsequenzen der Massenproduktion um jeden Preis vor Augen geführt. Schweinepest, Vogelgrippe und Rinderwahnsinn - Lebensmittel wurden lebensbedrohlich.

Und mit jeder Seuche wuchs die Zahl jener, die lieber »Bio« kauften. So entstand nicht nur eine alternative Landwirtschaft, sondern auch eine alternative Wirtschaft. Immer mehr Verbraucher legen Wert darauf, dass bei Produkten nicht nur das Preis-Leistungs-Verhältnis stimmt, sondern auch die gesellschaftliche und ökologische Bilanz.

Das ist gut für »kleine geile Firmen« (Funny van Dannen) - die wendigen Segelboote in der Welt der Wirtschaft - und schlecht für Konzerne - die trägen Tanker des Kapitalismus. Diese geraten in Erklärungsnot und müssen sich neu erfinden. Doch das klingt einfacher, als es ist. Denn wirkliche Veränderungen gehen ins Geld. Die Alternativen zu Palmöl, Plastik, Massentierhaltung und Aromen aus Sägespänen sind teuer. Nicht jeder kann sich das leisten. Auch endet der Idealismus und Weltverbesserungsdrang mancher Konsumenten in dem Augenblick, in dem auf dem Preisschild ein höherer Betrag steht. Ein auf Mehrweggeschirr servierter Bio-Big-Mac für zehn Euro wäre das sichere Ende für McDonald’s.

Wie also können Konzerne ihre Außendarstellung verändern, ohne sich verändern zu müssen? McDonald’s macht es vor. Unter dem Motto »Es gibt immer etwas, das uns verbindet« schaltete man vor wenigen Monaten eine Plakat- und Social-Media-Kampagne, die in jedem Lehrbuch für Vielfalt erscheinen könnte. Da findet sich eine kopftuchtragende Muslimin neben einem weiblichen Punk, ein junger Mann mit Down-Syndrom neben einer Rentnerin und ein nichtweißer Junge neben einer mittelalten Frau mit Nasenpiercing und kurzen rosa gefärbten Haaren - vermutlich soll sie queer sein. Passend dazu unterlegt McDonald’s sein Markenlogo auf Facebook und Instagram mit den Regenbogenfarben. Ist es nicht schön, dass ein Weltunternehmen mit gutem Beispiel vorangeht?

Was in dieses idyllische Bild nicht hineinpasst, sind die realen Arbeitsbedingungen. Wenn die Personalchefin von McDonald’s Deutschland, Sandra Mühlhause, betont: »Jeder Mensch ist bei uns willkommen, und das nicht nur vor, sondern auch hinter dem Tresen. Bei uns arbeiten Menschen aus über 118 Nationen als Team. Wir verstehen uns als Marke, die jedem Menschen eine Chance bietet, sich zu entwickeln, und die Integration sichtbar lebt«, vergisst sie, die entscheidende Information zu erwähnen: Der Fastfood-Kette bleibt nichts anderes übrig, als damit zu werben. »Weltoffenheit und Toleranz ist seit jeher die Basis der Marke McDonald’s«, betont Susan Schramm, Marketingchefin. Denn nur so findet man ausreichend Menschen, die bereit sind, für einen Stundenlohn von elf Euro zu arbeiten. Und das ist noch vergleichsweise viel; vor Corona konnte man es sich erlauben, nur 9,25 Euro zu zahlen.

Doch demonstrieren Großunternehmen Vielfalt nicht nur, wenn es um Niedriglöhne unabhängig von Herkunft und Identität geht. Auch im Vertrieb macht sich Diversität bezahlt. Seitdem die Marktforschung homosexuelle Paare als kaufstarke Zielgruppe ausgemacht hat, haben Konzerne ihr Herz für die gleichgeschlechtliche Liebe entdeckt. Vor allem im Juni, dem »Pride Month« der LGBTIQ-Bewegung, leuchten die Logos von Firmen wie BMW, Allianz, Bayer, SAP, Deutsche Bank, Heineken, TikTok und Booking.com in den sozialen Netzwerken regenbogenbunt. Das ist Engagement, das nichts kostet, aber in puncto Image viel bringt. Erst recht, wenn die korrupte, erzreaktionäre UEFA verbietet, ein EM-Stadion in den Regenbogenfarben zu illuminieren. Dann wirkt der VW-Konzern, der seine Bandenwerbung bunt unterlegt, auf einmal wie Robin Hood. Nie war es so einfach, Gratismut zu zeigen. Zugleich erspart sich Volkswagen dadurch öffentliche Diskussionen über weniger angenehme Themen wie den Abgasskandal.

Hier zeigt sich, was clevere Öffentlichkeitsarbeit bewirken kann. Konzerne sind anpassungsfähiger, als es ihren Gegnern lieb ist. Karl Marx würde staunen, dass der Kapitalismus noch immer nicht kapituliert hat. Vielmehr lernt er stetig dazu. Wenn’s der Kundinnenbindung dient, kann er sogar gendern.

Offenbar hat man in den Marketingabteilungen - auch in der von Heidi Klum - »Mad Men« genau studiert. In dieser preisgekrönten TV-Serie über eine Werbeagentur in den 60er Jahren erfährt man eine Menge über den Kapitalismus der Gegenwart. Zum Beispiel, wie manipulative Kommunikation funktioniert. Wie drückt es der charismatische Kreativdirektor Don Draper in einem Kundengespräch aus: »Wenn Ihnen das Gesagte nicht gefällt, ändern Sie das Gespräch.« ProSieben, Apple, McDonald’s und Co. haben verstanden!

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