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Die auf Hochtouren laufende Zukunftskonferenz könnte die EU tatsächlich verändern. Aber dafür müssen noch einige Hürden überwunden werden

  • Helmut Scholz
  • Lesedauer: 3 Min.
Plenarsitzung der EU-Zukunftskonferenz in Straßburg
Plenarsitzung der EU-Zukunftskonferenz in Straßburg

Es hat etwas Irrationales. Da beschäftigt sich seit einem Jahr ein multilaterales Forum mit Veränderungsmöglichkeiten europäischer Politik. Da ist eine Debatte auf den Weg gebracht, die praktisch alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens in der EU gerade aus Sicht der Bürger*innen erfasst. Da wird in allen 27 EU-Ländern, über alle Ebenen hinweg diskutiert. Da sind – erstmals in der EU-Geschichte – Bürger*innen an einem Ländergrenzen überschreitenden »Verfassungsprozess« beteiligt und gefordert, gemeinsam konkrete Vorschläge für Veränderungen vorzulegen. Und trotzdem führt die EU-Zukunftskonferenz ein Mauerblümchendasein – in Politik wie Öffentlichkeit. Ein Problem: Viele Menschen, ja selbst eine große Zahl von Politiker*innen, haben von der Konferenz über die Zukunft Europas, nach ihrer englischen Abkürzung kurz COFE oder CoFoE, noch nie etwas gehört. Das andere: Nicht wenige Entscheider*innen in Politik und Wirtschaft wollen gar nicht, dass dieser Diskurs in die Öffentlichkeit getragen wird. Und das alles, obwohl in diesen Wochen überall von engagierten Verantwortlichen Foren mit Bürger*innen organisiert werden, bei denen es um mehr als Visionen für ein anderes Europa, um real anzupackende Prozesse, konkrete Vorhaben und Zeitpläne geht.

Zur Person
Helmut Scholz ist Europaabgeordneter (Fraktion The Left) und arbeitet unter anderem im Ausschuss für konstitutionelle Fragen. Er ist Vertreter des Europaparlaments in der Plenarkonferenz der EU-Zukunftskonferenz.

Bereits die Geburt von COFE war alles andere als einfach. Mit über einem Jahr Verspätung konnte die erste Sitzung erst am 9. Mai vergangenen Jahres, dem Europatag, stattfinden. Auch pandemiebedingt, leider. Aber bei weitem nicht nur. Es war in erster Linie das Europäische Parlament, das über Fraktionsgrenzen hinweg auf den zivilgesellschaftlichen Ansatz, die Offenheit des Projekts und Transparenz hinsichtlich Dimension und Veränderungsnotwendigkeiten der Vertragsrealitäten von heute orientierte. Vielleicht war und ist gerade deshalb der Widerstand im Rat und auf anderen Regierungsebenen in verschiedenen EU-Mitgliedsstaaten so groß. Es herrscht Zweifel gegenüber realer Bürger*innenbeteiligung an politischen Entscheidungsprozessen – was COFE ganz gewiss mit sich bringen wird und muss. Die Furcht vieler Entscheidungsträger*innen ist offensichtlich, dass am Ende der gesamte neoliberal ausgerichtete Lissabonner Vertrag zur Disposition stehen könnte. Wir Linke sagen deutlich: Viele der sozialen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen Aufgaben heute und in Zukunft verlangen gemeinschaftliche europäische Lösungsansätze, verlangen deshalb die Überarbeitung existierender, und ja, neue vertragliche Grundlagen der EU.

Das ist auch der Tenor der Versammlungen von Bürger*innen im Rahmen der Zukunftskonferenz. Inzwischen haben zwei von insgesamt vier dieser jeweils mehrphasigen Foren ihre Berichte mit Empfehlungen zu Aufgaben und Reformen in der EU erarbeitet. Diese bilden neben den vielen Wortmeldungen auf der digitalen Konferenzplattform den Grundstock für die Erarbeitung von Schlussfolgerungen durch die sogenannte Plenarversammlung. Dort kommen Abgeordnete, Politiker*innen, Vertreter*innen der Zivilgesellschaft und der europäischen Institutionen zusammen. Einige Beispiele für die sehr konkreten Vorschläge? Ein EU-Gesetz soll die Einstellung von Arbeitnehmer*innen aus diskriminierungsanfälligen Gruppen unterstützen. Um eine tierfreundliche Landwirtschaft zu fördern, sollen Emissionen durch Langstreckentransporte von Tieren besteuert werden. Die Produktionsstandards der EU sollen nachhaltiger werden und auch für importierte Waren gelten. Ein Sanktions- und Anreizsystem soll geschaffen werden, um die Umweltverschmutzung umzukehren. EU-weiter Mindestlohn, Veränderung der Governance-Prinzipien, EU-Verfassung, solidarische Asyl- und Migrationspolitik, Mehrheitsentscheidungen zu vielen EU-Politiken ... solche Empfehlungen der Bürger*innen zeigen den wachsenden Anspruch auf politische Mitgestaltung der Zukunft der EU.

Zentral für alle Teilnehmenden der Zukunftskonferenz bleibt deshalb, dass sie präzise und konkrete Schlussfolgerungen und einen Fahrplan für deren Umsetzung in reale Politik vorlegt. Aber das bleibt – mit Blick auf europolitische Positionen in den 27 Mitgliedstaaten und EU-Institutionen – harte politische und gesellschaftliche Auseinandersetzung. Die Weichen sind nun zu stellen: Bereits zum diesjährigen Europatag sollen die Schlussfolgerungen der Plenarkonferenz, in Paris – kurz nach den französischen Präsidentschaftswahlen – noch unter Pariser EU-Ratspräsidentschaft, vorgestellt werden.

Der ungekürzte Text: www.die-zukunft.eu

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