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Risiko Gebrechlichkeit

Das Weißbuch Alterstraumatologie und Orthogeriatrie empfiehlt Behandlung in Zentren

  • Ulrike Henning
  • Lesedauer: 3 Min.

Es könnte eng werden in den nächsten Jahren: Die Krankenhauslandschaft wird sich verändern; von den heute etwa 1900 Häusern werden in zehn Jahren noch etwa 650 bis 700 für die Akutversorgung bereitstehen, wo auch die Unfallchirurgie angesiedelt ist. Diese Perspektive eröffnet der Internist und Geriater Clemens Becker. Der Mediziner stellte am Mittwoch mit Kollegen aus Unfallchirurgie und Orthopädie ein Weißbuch zu Alterstraumatologie und Orthogeriatrie vor. In dem Sammelband geht es um Probleme der Versorgung von Frakturen, um den Ersatz von großen Gelenken, Verschleißerscheinungen der Wirbelsäule - und dies alles bei älteren Patienten. Die Aufsätze sollen Wege zu einer besseren Versorgung zeigen.

Zum eingangs genannten Umbau bei den Kliniken kommt hinzu, dass der Anteil älterer Menschen stetig steigt. Das resultiert aus den geburtenstarken Jahrgängen der sogenannten Babyboomer. Die Herausforderung ist absehbar: Denn jährlich erleiden in Deutschland schon jetzt etwa 700 000 Patienten Knochenbrüche infolge von Knochenschwund (Osteoporose), die meist durch einen Sturz ausgelöst werden.

Das Risiko solcher Verletzungen steigt im Alter. Hochrechnungen zufolge wird die Anzahl dieser Frakturen bis 2030 um 21 Prozent, bis 2050 um 57 Prozent zunehmen. Obwohl die Sterblichkeit nach Hüftfrakturen in den letzten Jahren deutlich zurückgegangen ist, liegt sie zwölf Monate nach dem Unfall bei gebrechlichen Patienten weiterhin bei etwa 25 Prozent. Aber auch wer die Folgen eines derartigen Bruchs überlebt, muss mit harten Einschnitten im Alltag klarkommen.

Häufig sind diese Patienten nicht mehr in der Lage, ihr selbstständiges Leben weiterzuführen. 30 Prozent von ihnen werden nach einer Hüftfraktur im Rahmen der Pflegeversicherung erstmalig als pflegebedürftig eingestuft. Oft folgt die Aufnahme in ein Heim.

Aktuelle Schätzungen gehen davon aus, dass die gesellschaftlichen Versorgungskosten in Deutschland von etwa 11 Milliarden Euro im Jahr 2017 auf 14 Milliarden Euro im Jahr 2030 ansteigen werden. Um dieser Entwicklung etwas entgegenzusetzen, schlagen die Weißbuch-Autoren mehrere Ansätze vor. So sollten für die Behandlung und Versorgung nicht nur Ärzte wie Unfallchirurgen und Altersmediziner zur Verfügung stehen, sondern auch genügend spezialisierte Pflegekräfte, Physio- und Ergotherapeuten sowie ein Sozialdienst. Die Versorgung in Zentren ist angeraten. Diese existieren bereits: Hierzulande stehen 130 Schwerpunktzentren für die Behandlung von Altersverletzungen bereit.

Zumindest theoretisch hat der Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) für das Gesundheitswesen schon auf die höheren Anforderungen reagiert: Nach hüftgelenksnahen Frakturen müssen Patienten seit 2012 innerhalb von 24 Stunden operativ versorgt und auch durch Altersmediziner mit behandelt werden. Physiotherapie muss durchgängig, auch an Wochenenden, erfolgen können. Jedoch ist dieser hohe Aufwand noch nicht durch eine entsprechende Vergütung gedeckt, kritisiert unter anderem der Orthopäde und Unfallchirurg Ulrich Liener vom Marienhospital Stuttgart. Zur Vermeidung von Pflegebedürftigkeit trage auch moderne, minimalinvasive Chirurgie bei.

Auf Besonderheiten der über 80-jährigen Patienten wies der Geriater Rainer Wirth aus Bochum hin: »Ältere Menschen sind nicht einfach nur alt gewordene Erwachsene, die an einer zunehmenden Zahl von Krankheiten leiden, sondern Menschen mit einem sehr unterschiedlichen Stoffwechsel, einer sehr eigenen Physiologie, die insbesondere durch eine ausgeprägte Vulnerabilität gekennzeichnet ist.« Daten aus einem englischen Hausarztregister haben zum Beispiel ergeben, dass Demenzkranke zu 21 Prozent noch an einer koronaren Herzkrankheit leiden und zu 32 Prozent an einer Depression.

Im Durchschnitt haben die Hochaltrigen heute mehr als vier Erkrankungen gleichzeitig. Hinzu kommt bei vielen Gebrechlichkeit, die für das Überleben von Unfällen noch deutlich relevanter ist als die Krankheiten. Risiken wie Muskelverlust, Arzneimittelnebenwirkungen oder Mangelernährung müssten frühzeitig erfasst und in Behandlungskonzepte einbezogen werden.

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