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Innovative Medikamente als Systemsprenger
Gutachten des Sachverständigenrats Gesundheit zeigt, wie Arzneimittelausgaben in Zukunft begrenzt werden könnten
Mit einzelnen innovativen Medikamenten können Pharmahersteller horrende Preise erzielen. Zolgensma – in Deutschland seit 2020 zugelassen – wird zur Behandlung von Kindern mit einer speziellen Muskelrückbildung eingesetzt. Eine solche Atrophie ist eigentlich Zeichen von Alterungsprozessen. Das Gentherapie-Medikament wird einmalig intravenös verabreicht, es liefert eine Kopie des fehlenden oder defekten Gens. Aktuell gilt es als die teuerste Einmaltherapie der Welt. 2022 wurde ein Erstattungsbetrag von 1,395 Millionen Euro zwischen dem Hersteller Novartis und dem Spitzenverband der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-SV) verhandelt. Bei der Zulassung war noch ein Preis von zwei Millionen Euro aufgerufen worden. Das Beispiel zeigt, dass doch ein Spielraum für Preisverhandlungen besteht und auch die Anwendung von Regularien Hersteller nicht unbedingt zum Marktrückzug bewegt – auch wenn der Erstattungsbetrag immer noch astronomisch anmutet.
Nun gibt es aber nicht nur Zolgensma, sondern jede Menge noch patentgeschützter Wirkstoffe, darunter weitere Genersatztherapien, und allgemeiner Medikamente zur Behandlung seltener Erkrankungen (sogenannte Orphan Drugs). Schon länger gehören Krebsmedikamente ebenfalls zu den Hochpreisern. Nach Zahlen zum Jahr 2020 sorgten allein die 21 umsatzstärksten Mittel im GKV-Bereich für die Hälfte aller Arzneimittelkosten der gesetzlichen Kassen. Eine andere Statistik besagt, dass der durchschnittliche Preis neu eingeführter, patentgeschützter Medikamente in den letzten 15 Jahren von etwa 1000 auf 50 000 Euro stieg.
Der Rat empfiehlt, die Preise neuer Medikamente künftig stärker am tatsächlichen medizinischen Mehrwert für Patienten auszurichten.
Der Kostenanstieg in diesem Bereich verlangsamt sich durchaus nicht: Vielmehr lag er für den GKV-Arzneimittelbereich von 2023 zu 2024 bei zehn Prozent. Im Vergleich dazu wuchs die stationäre Versorgung um acht Prozent. Nach der Krankenhausversorgung bilden Medikamente den zweitgrößten Kostenblock der GKV. Die hohen Preise und der wachsende Ausgabenanteil für patentgeschützte Mittel gehen damit einher, dass nicht einmal alle diese Wirkstoffe tatsächlich einen Zusatznutzen gegenüber vorhandenen Therapien mitbringen. Schon deshalb scheint es sinnvoll, an vorhandenen Preisbildungsmechanismen etwas zu ändern. Zielstellung: Für wenig nützliche Medikamente weniger bezahlen, den Zugang zu den wirklichen Innovationen aber erhalten und angemessen bezahlen.
Mit dieser Aufgabenstellung befasst sich ein Gutachten des Sachverständigenrats Gesundheit und Pflege, das seit Mai bekannt ist und am Freitag auf einer Veranstaltung in Berlin diskutiert wurde. Gleichzeitig wurde hier der 40. Jahrestag des Rates begangen. Dieser agierte im Fall des aktuellen Gutachtens in eigenem Auftrag, was nicht immer der Fall ist. Das Gremium mit sieben Mitgliedern wird von der Bundesregierung meist für die Dauer von vier Jahren berufen und erstellt etwa alle zwei Jahre ein Gutachten.
Der Rat empfiehlt nun, die Preise neuer Medikamente künftig stärker am tatsächlichen medizinischen Mehrwert für Patientinnen und Patienten auszurichten. Vertieftes Wissen über die Zulassungsdaten hinaus könnte unter anderem über weitere (industrieunabhängige) Wirksamkeitsstudien nach der Zulassung erreicht werden. Auf dieser Basis könnten die Preise zwischen Herstellern und Kassen neu verhandelt werden.
Als vermutlich letztes Mittel der Wahl könnte ein globales Budget für patentgeschützte Arzneimittel im GKV-Bereich eingeführt werden. Würde dieses dann überschritten, müssten die Hersteller je nach Marktanteil Abschläge hinnehmen. In ersten Reaktionen hielten etwa die Ersatzkassen das in einem Sofortprogramm für sinnvoll. Andererseits muss es nicht so weit kommen, wenn andere Maßnahmen ebenfalls Wirkung zeigen.
Die gesetzlichen Krankenkassen wären vermutlich schon erleichtert, wenn die Hersteller, wie seit 2022 geregelt, den Preis für ein neues Produkt bei Marktzugang nicht mehr freihändig festlegen dürfen, bis sich Unternehmen und GKV-SV nach sechs Monaten auf einen Erstattungspreis geeinigt haben. Nach der Ratsempfehlung sollte stattdessen ein Interimspreis bestimmt werden, der sich am Preis einer »zweckmäßigen Vergleichstherapie« orientiert. Die Differenz zwischen diesem Preis und dem dann verhandelten Erstattungspreis soll rückwirkend ausgeglichen werden.
In der Debatte in Berlin in der letzten Woche ging es auch darum, den Herstellern die Regularien schmackhaft zu machen. Und sie andererseits davon zu überzeugen, dass ein solches Vorgehen nicht einmalig in der Welt wäre. Denn etwa in Dänemark und Spanien gebe es eine starke Pharmaindustrie, wie Ratsmitglied Leonie Sundmacher argumentiert, und zwar »trotz einer strikten Preispolitik«. Die Münchner Gesundheitsökonomin erklärt, dass der Rat durchaus für eine Förderung der Industrie sei – aber eben nicht über eine Politik der hohen Preise.
Denkbar sind hier etwa vereinfachte Möglichkeiten, klinische Studien durchzuführen oder Patientendaten für die Forschung verfügbar zu machen. Dagegen sprachen bisher unter anderem Datenschutzvorbehalte.
Bundesgesundheitsministerin Nina Warken betonte am Freitag, wie wichtig ein gemeinsames Vorgehen aller Beteiligten sei – also von den Kassen über die Medizin bis zu den Herstellern. Das SVR-Gutachten soll nach ihren Worten in den künftigen Pharmadialog einfließen. Dieses Format diente bereits in der Vergangenheit dazu, den Standort entsprechend den Forderungen der Industrie zu stärken.
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