Dieser Krieg zerreißt mir das Herz

Putins verbrecherischer Überfall auf die Ukraine lässt sich auch mit dem Blick auf die Geschichte nicht rechtfertigen, sagt André Brie.

  • André Brie
  • Lesedauer: 4 Min.

Meinst du die Russen wollen Krieg? So heißt es in einem der populärsten und schönsten Gedichte von Jewgeni Jewtuschenko.

»Shalom aleichem«, »Salam aleikum«, »Friede sei mit euch«, sagt man in drei Religionen, »Miru mir!« – »Frieden der Erde!« in Russland. Hätte ich am Mittwoch vergangener Woche diesen Beitrag geschrieben, wäre er ein anderer geworden. Doch nicht nur jene Woche ist vergangen. Ich bin sicher, Jewtuschenkos Frage kann genauso wie vor sechzig Jahren beantwortet werden: Die Russen wollen keinen Krieg. Stalin wollte (zusammen mit Hitler) den Krieg gegen Polen, später den Krieg gegen Finnland. Den jetzigen Krieg gegen die Ukraine wollte Putin, doch die Ukrainerinnen und Ukrainer, die russischen Soldaten sowie ganz Russland bezahlen dafür. Er ist, das sage ich entschieden, eine Aggression und ein Verbrechen direkt vor unserer Haustür.

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In den letzten Tagen erhielt ich ungewöhnlich viele Anrufe und Besuche. Am Freitag kam eine junge Polin zu mir, um über den Krieg zu sprechen. Am Sonntag war mein behinderter Freund Maik zu Gast. Er kann kaum sprechen, aber selbst er sagte: »André, Bum!« Ich musste ihm in einem Atlas zeigen, wo die Ukraine, wo Deutschland liegt.
Zwei sehr enge und herzliche Freunde riefen mich an. Das Gespräch dauerte mehr als eine halbe Stunde, denn sie hielten den Angriff Russlands auf die Ukraine für berechtigt und widersprachen mir, als ich sagte, dass im Krieg die Wahrheit immer zuerst stirbt. Als Beispiel nannte ich Putins Behauptung, es gehe um die Beendigung des Völkermords im Donbass. So groß die Probleme dort auch sind – Genozid ist etwas anderes. Ich brauche nur daran zu denken, was die Deutschen den Herero und Nama im heutigen Namibia oder den europäischen Jüdinnen und Juden und was der sogenannte Islamische Staat erst vor wenigen Jahren den Jesiden im Irak angetan haben.

Zu DDR-Zeiten war ich Friedens- und Abrüstungswissenschaftler, auch Mitglied des 1988 gegründeten Friedensforschungsrates. Nach 1990 fuhr ich dreißig Mal in Kriegsgebiete im Nahen Osten, unter anderem in den Irak und nach Afghanistan.

Ich wollte über und gegen Kriege nicht nur schreiben oder reden, sondern bei den betroffenen Menschen sein, sie hören und erleben. Und doch war ich nur Beobachter, Menschen konnte ich kennenlernen, den wirklichen Krieg lernte ich nicht kennen. Den erleben nur die Menschen, die dort leben. Ich sah Anschläge und Kämpfe in Israel und Palästina und in anderen Ländern. In meinem Buch »Frieden kriegt man nicht« schrieb ich darüber auf der Grundlage meiner Tagebücher aus jener Zeit. Diese Reisen ließen mich niemals los.

In die Ukraine kann ich heute nicht. Doch dieser Krieg zerreißt mir das Herz, und in diesen Tagen sind ich, meine Töchter und viele Freunde den Tränen nahe. Im Petersburger Dialog gelte ich als einer der »Putinversteher«. Verstehen ist etwas Gutes und Notwendiges. Doch in dem Kontext ist es nicht wohlwollend gemeint. Mein Verständnis besteht nicht länger. Am Sonntag drohte Putin mit dem Einsatz von Kernwaffen.

Die beiden Freunde, mit denen ich telefonierte, haben jedoch teilweise recht: An diesem Krieg hat auch der Westen Schuld. Gorbatschow wurde bei den Verhandlungen zum Zwei-plus-Vier-Vertrag 1990 zugesagt, dass die Nato nicht in den Osten erweitert werden würde. Doch Gorbatschow ließ dies nicht vertraglich vereinbaren. Er machte es hier wie mit seiner Perestroika, es gab keine konkreten Vorstellungen und Festlegungen. Die Nato hat sich immer weiter Richtung Osten ausgedehnt, und Russland wurde immer wieder gedemütigt. 1999 überfiel die Nato ohne UN-Mandat und gegen den russischen Widerstand Jugoslawien.

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Joschka Fischers Legitimierung dieses Einsatzes mit Holocaust-Vergleichen und was weiter vor Ort geschah, werde ich nicht vergessen. 2000 wurde die OSZE praktisch entmachtet (dabei tat Russland allerdings mit). Es ließe sich fortsetzen. Kriege lassen sich nur durch rechtzeitiges Handeln verhindern. Das sollte uns – und muss uns auch in diesem Fall – eine Lehre sein, eine andere Friedenspolitik gibt es nicht.

Der heutige Krieg, dieses Verbrechen durch Putin und seine Führung, lässt sich auch mit dem Blick auf die Geschichte nicht rechtfertigen. Meine Liebe zu Russland ist unverändert. Mein Verständnis für Putin ist es nicht.

André Brie ist Abrüstungsexperte und war unter anderem EU-Abgeordneter der Linkspartei.

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