»Wer verfügt über wie viel Zeit?«

Ein ungeheurer Reichtum: Der Philosoph Michael Hirsch spricht über sein Buch »Kulturarbeit«, eine neue Ökonomie der Zeit und den Eigenwert des Kulturellen

  • Jakob Hayner
  • Lesedauer: 8 Min.
Im Kulturbetrieb folgt man den falschen Versprechungen wie der Esel der Karotte.
Im Kulturbetrieb folgt man den falschen Versprechungen wie der Esel der Karotte.

»Kulturarbeit« heißt Ihr neuestes Buch. Schon beim Titel bleibe ich kurz hängen: Ist doch heute häufiger von »Kreativwirtschaft« oder - nebenher historisch vorbelastet, weil von den Nazis geprägt - von »Kulturschaffenden« die Rede. Warum stattdessen »Kulturarbeit«?

Interview

Michael Hirsch, Jahrgang 1966, ist Philosoph, Politikwissenschaftler und Kunsttheoretiker. Er lehrt politische Theorie und Ideengeschichte an der Universität Siegen und lebt als freier Autor in München. Von ihm sind zuletzt erschienen: »Logik der Unterscheidung. 10 Thesen zu Kunst und Politik« (2015), »Die Überwindung der Arbeitsgesellschaft. Eine politische Philosophie der Arbeit« (2016), »Richtig Falsch. Es gibt ein richtiges Leben im Falschen« (2019) und »Utopien des Überflusses. Über künstlerische Arbeit und Bildung in den Zeiten der Krise«. Sein neues Buch heißt »Kulturarbeit. Progressive Desillusionierung und professionelle Amateure«.

Da es in dem Buch nicht nur um Kunst und Kultur, sondern auch um andere intellektuelle Tätigkeiten wie Wissenschaft oder Journalismus geht, schien mir zum einen der Begriff »Kulturarbeit« der allgemeinste. Zum anderen möchte ich mit dem Wort »Kulturarbeit« eben nicht so sehr die im ökonomischen Sinne wertschöpfende Arbeit beleuchten, sondern die im symbolischen, ethischen und politischen Sinne wertschöpfenden Arbeiten. Es geht also um ein bestimmtes Modell des Tätigseins und Arbeitens. Um ein Modell, das sich gerade von der Rechtfertigung durch ökonomische oder volkswirtschaftliche Nützlichkeit unterscheidet und emphatische Eigenwerte produziert. Schließlich möchte ich mit dem Insistieren auf dem Begriff der Arbeit aber auch betonen: Bei aller Autonomie bleibt es eben immer auch Verausgabung menschlicher Arbeit und Arbeitszeit, die, wie andere Formen von Arbeit auch, Formen der Herrschaft, der Ungleichheit und der Entfremdung ausgesetzt ist.

Nun konstatieren Sie zwei Dinge: Zum einen hat die Kulturarbeit einen schweren Stand, üblicherweise heißt es, Dichter tun weniger fürs Bruttoinlandsprodukt als Automobilingenieure. Zum anderen aber sei der Kulturbetrieb ebenso wie die Automobilwirtschaft von einer Krise betroffen, von Überproduktion und Unterkonsumtion. Wie kommt es dazu?

Es ist ist falsch, die kulturellen Arbeiten und die kulturellen Arbeiterinnen von ihrem ökonomischen oder volkswirtschaftlichen Nutzen her zu begreifen. Das ist die Falle der Rechtfertigung, in die während der Pandemie große Teile der öffentlichen Debatte gegangen sind beim Versuch, Staatshilfen für Soloselbstständige zu begründen. Damit wird der ganze Witz solcher Tätigkeiten verschenkt, der gerade darin besteht, eine konkrete Kritik von Lohnarbeit zu sein. Wenn man nicht auf diesem Paradigma der bestimmten Negation von Lohnarbeit - und ihren Vorstellungen von Nützlichkeit, Produktivität, Rentabilität und Inwertsetzung - besteht, dann landet man in einem gänzlich unkritischen und unpolitischen Begriff von Kulturarbeit. Und damit in einer entfesselten Dynamik von Konkurrenz und Überproduktion, wie sie für kapitalistische Warenproduktion eben typisch ist.

In einem derartig konventionell und vulgär verstandenen System der Konkurrenz von Lohnarbeitern am Arbeitsmarkt bleibt einem nichts anderes übrig als besinnungslos auf Mehrarbeit und damit Überproduktion zu setzen. Und mit der Überproduktionskrise eine Unterkonsumtionskrise zu erzeugen. Beides ist gleichermaßen fatal für die intellektuelle Qualität kultureller Arbeit, hängt ihr gesellschaftskritisches und utopisches Potenzial doch gerade an den immanenten Qualitäten, an der emphatischen, intensiven Qualität der Produktion wie der Rezeption von Texten und Kunstwerken.

Um Kultur zu machen und an ihr teilzuhaben, braucht man freie Zeit. Fängt es also, wie letztlich jede ökonomische Frage, mit der Zeit und der freien Verfügung darüber an und führt uns dann dahin, was wir eigentlich damit machen, was wir herstellen?

Wie Marx sagte: Ökonomie der Zeit, darin löst sich schließlich alle Ökonomie auf. Wer verfügt über wie viel Zeit, wer verfügt über wessen Zeit und wer verfügt über sich selbst? Und der Inbegriff von Emanzipation ist hier, Marx zufolge, die Schöpfung von möglichst viel »disposable time« für alle. Wenn nun auch im Kulturleben immer mehr Menschen in ein Regime der allgemeinen Zeitarmut, Mehrarbeit und Überproduktion eintreten, dann treten sie in ein Regime der schieren Professionalität ein. Das heißt des schlechten Gebrauchs der Zeit, der zunehmenden Gleichgültigkeit gegenüber dem Arbeitsprodukt und gegenüber sich selbst. In der Hingabe an die Sache, den Gedanken, das Kunstwerk, steckt hingegen die reale Utopie einer befreiten Zeit, das heißt einer befreiten menschlichen Tätigkeit.

Nun führen Sie zwei Begriffe in die Debatte ein: Die progressive Desillusionierung und die professionellen Amateure. Was kann man sich darunter vorstellen?

Mit dem Begriff progressive Desillusionierung möchte ich eine Alternative zu den üblichen Formen der Desillusionierung vorschlagen. Diese funktionieren meist als Enttäuschungen, als eher depressive, entmächtigende Formen der Desillusionierung. Sie beugen uns unter das herrschende Realitätsprinzip: »Da kann man nichts machen«, »So ist es eben«, »Das ist leider normal« und so weiter. Progressive Desillusionierung meint hingegen eine Form der Aufklärung, die uns tatsächlich so von schädlichen Illusionen befreit, aus der stumpfen Verhaftung in falschen Hoffnungen, dass die künstlerische, ethische und politische Autonomie, das Begehren der eigenen Arbeit, nicht zugleich mit der Aufklärung mit absterben.

Mit den professionellen Amateuren meine ich Figuren, Künstlerinnen, Wissenschaftler, Autorinnen, Schriftsteller, die im Licht der progressiven Desillusionierung leben und arbeiten, in einer immanenten Distanz zum Betrieb und zu seinen Professionssystemen. Es ist eine konkrete Utopie: Umstellt von den schwierigen, unfreien und ungleichen Bedingungen des Kulturbetriebs eine Würde, eine Haltung zu wahren, die der falschen Alternative entgeht. Also hier der illusionäre Glaube an die falschen Versprechungen des Betriebs, an die Karotte, hinter der wir Esel herlaufen, dort der Zynismus einer kalten Realitätserkenntnis, die fast allen Sinn auslöscht und nur noch die Wahrheit von Macht und Erfolg kennt.

Künstler, oder wie man auch sagt die »kreative Klasse« gelten als role models im Neoliberalismus. Das Leben als Projekt, Unternehmer der eigenen Arbeitskraft, die Freiheit, alles zu tun, was sich verwerten lässt. Wie entkommt man diesem Dilemma, in das auch die professionellen Amateure geraten könnten?

Ein Stück weit entkommt man dem Dilemma, wenn man dem ein anderes role model entgegensetzt. Wenn man in Betracht zieht, wie eine große Zahl von Menschen im kulturellen Feld längst schon lebt, nämlich in Konstellationen von Doppelleben, von gemischten Berufskonstellationen und Patchwork-Existenzen. Anstatt weiterhin von vollzeitbeschäftigten Spezialisten und Profis in ihrem jeweiligen Feld auszugehen, die immerzu und vollständig ihre Arbeitskraft verwerten. Professionelle Amateure hingegen leben in einer stärkeren Distanz zum Betrieb und seinen Herrschaftsformen. Das kann man politisch fördern, indem wir zum Beispiel im Öffentlichen Dienst an Hochschulen, Theatern und Museen stärker vom role model des »job sharing« und der Teilzeitarbeit ausgehen, indem wir so eine stärkere Durchlässigkeit der Arbeitsprofile für gemischte, vielfältige Lebensweisen erzeugen. Die Zwänge zur Selbstverwertung haben viel zu tun mit Machtmonopolen in den Professionen, wo wenige Gatekeeper einer Masse von Kulturarbeiterinnen gegenüberstehen.

Manche können heute so leben, viele andere nicht. Das ist vor allem für eine prekäre Bohème möglich, die vom Erbe oder dem Einkommen ihrer Partner über die Runden kommt. Muss man mehr über Geld sprechen - und über Klasse?

Richtig, manche können heute so leben, viele andere nicht. Aber es sind sehr viel mehr Menschen, die es könnten, sich es aber nicht zugestehen, aus Angst, den professionellen Standards und Ansprüchen nicht zu genügen. Aus Angst vor dem Stigma, nicht als autonomes, starkes, männliches Subjekt zu gelten, und öffentlich einzugestehen: Ja, ich bin abhängig vom Einkommen meiner Partnerin oder meines Partners, und von eigenen Nebenjobs. Ja, ich kann nicht wirklich leben von meiner künstlerischen, wissenschaftlichen, politischen Arbeit. Aber ich wende mich gegen die vorherrschende androzentrische Bedeutungsökonomie, die einem Fetisch von bürgerlicher Berufsarbeit, Karriere und Erfolg unterliegt.

Man muss viel mehr und viel konkreter über Geld sprechen und über Abhängigkeiten; über die Frage, wer Zugang zu kulturellen Fähigkeiten und Teilhabe an kulturellen Gütern und Gemeingütern hat. Ich plädiere dafür, das Sprechen über Klasse aus den leicht ranzigen, ressentimentgeladenen Selbstgeißelungen des tonangebenden Bürgertums zu befreien und als Kritik an den extrem inegalitären (Klassen-)Verhältnissen im Kulturbetrieb auszubuchstabieren - und damit in eine progressive Richtung zu wenden, wo es dann wirklich um allgemeine Teilhabe geht, um die Verbreiterung des Zugangs sowohl zur Produktion wie zur Rezeption von Kultur.

Um das zu ermöglichen, was müsste sich konkret ändern? Auch in Hinblick darauf, dass in den vergangenen zwei Jahren kulturelle Veranstaltungen einerseits als verzichtbarer Luxus und andererseits als unnötige Gefahrenquelle behandelt wurden, woraufhin die Kulturarbeit in einem schier unglaublichen Maße eingeschränkt wurde - mit Konsequenzen, die teils noch gar nicht abzusehen sind.

Für die Verbreiterung des Zugangs zu sämtlichen öffentlichen Gütern, nicht nur der Kultur, müsste sich vor allem die gesamte Ökonomie der Zeit in der Gesellschaft ändern. Nur so bricht man die symbolischen wie materiellen Monopole der Professionssysteme. Die Idee ist nicht besonders originell, aber sie ist und bleibt einer der wichtigsten Impulse der progressiven Teile der Arbeiter- und Frauenbewegung: Die Verkürzung des Arbeitstags, die radikale Reduktion des Herrschaftsbereichs von Lohnarbeit, ist, zusammen mit materieller Sicherheit für alle, also einer angstfreien Existenz, die zentrale Grundvoraussetzung von Emanzipation, auch im Kulturleben.

Nur wenn man künstlerische, wissenschaftliche und andere Formen von kultureller Arbeit aus der vulgären Vorstellung eines Berufs befreit, wird deutlich, dass es hier eben um einen Bereich des ungeheuren Reichtums des Menschen und des Gemeinwesens geht, der, ganz genauso wie der Bereich der sozialen, familiären und freundschaftlichen Sorgearbeit, um seiner selbst und seiner ästhetischen, ethischen und politischen Eigenwerte willen geschützt und gefördert werden muss, und nicht wegen irgendwelcher ökonomischer oder staatlicher Nutzenerwägungen. Dazu gehört eben auch das Recht und die Lust, öffentlich im urbanen Raum gemeinsam zu erscheinen und sich auszutauschen. Ohne diesen großartigen Luxus versinkt der Kulturbetrieb noch mehr in elitärem Professionalismus und Bürokratie.

Michael Hirsch: Kulturarbeit. Progressive Desillusionierung und professionelle Amateure. Textem Verlag, 136 S., br., 14 €.

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