Verlangen und Vermissen

Die Bedeutungen von Verzehren: Senthuran Varatharajah hat einen 20 Jahre alten Skandal zu seinem neuen Roman »Rot (Hunger)« verarbeitet und dabei auch die Theologie nicht vergessen

  • Michael Wolf
  • Lesedauer: 5 Min.

Am 9. März 2001 holt ein Mann namens Meiwes einen weiteren Mann namens Brandes am Bahnhof Kassel-Wilhelmshöhe ab. Die beiden haben sich in einem Internetforum kennengelernt, es ist ihr erstes Treffen.

Sie fahren mit dem Auto zum Wohnhaus von Meiwes, ein alter Gutshof mit über 30 Zimmern. Eines davon hat Meiwes speziell für diesen Tag hergerichtet, als Schlachtraum. Hier wird er Brandes auf dessen Wunsch hin seinen Penis abschneiden, diesen in einer Pfanne anbraten und den beiden servieren. Stunden darauf wird Brandes in diesem Raum verbluten, woraufhin Meiwes die Leiche zerlegt und für den späteren Verzehr vorbereitet.

Der Überlebende dieses grotesken Aufeinandertreffens sitzt seit 20 Jahren in Haft, er wurde unter der Bezeichnung »Kannibale von Rotenburg« bekannt. Die Hälfte seiner Wikipedia-Seite nimmt eine Zusammenstellung »Künstlerische Verarbeitung« ein. Mehrere Filme, Bücher und zahlreiche Musikstücke sind aufgelistet. Hier dürfte in Kürze auch der Name Senthuran Varatharajah stehen. Der deutsche Autor, Sohn tamilischer Eltern, erzählt den Fall in seinem zweiten Roman »Rot (Hunger)« nach.

»Dies ist eine Liebesgeschichte«, heißt es zu Beginn, doch darf man diese Äußerung nicht allzu provokant verstehen. Zwar erzählt Varatharajah durchaus explizit von jenem blutigen Tag im März, bedient sich an Originalquellen wie einem Interview und Chat-Protokollen und versucht auch Kontakt zu dem verurteilten Mörder aufzunehmen. Ein dokumentarischer Roman ist dieses Buch aber ebenso wenig geworden wie ein Horrorthriller.

Varatharajahs Liebesgeschichte ist die eines Erzählers, der auf denselben Vornamen wie der Autor hört. Dieser Senthuran hat sich von einer Frau getrennt und vermisst sie nun. Über große Teile des Romans ist der Fall Meiwes nur im Hintergrund präsent, als literarischer Stoff, mit dem sich ein Autor befasst, während er über den Erdball und nach Essen reist, säuft, raucht, Drogen nimmt, liest, reflektiert, betet, jede Menge Freunde trifft und bei all dem doch einsam bleibt. Nur in der Rückschau scheint er Halt zu finden, in der Erinnerung an das Schöne, an sexuelle Ekstasen, jedoch auch an das Leid.

Er schreibt über den Bürgerkrieg in Sri Lanka, erinnert sich an die Flucht seiner Eltern nach Deutschland, an die Kindheit in einer Sozialwohnung, an rassistische Sprüche. »Wenn sie haut ab sagten, zog ich meine Haut ab, nachts, auf dem Bett, mit meinen Zähnen.« Die Kannibalismus-Motivik findet hier eine politische Wendung, als äße Angst nicht nur die Seele auf, sondern den Körper gleich mit. Ganz buchstäblich darf man das verstehen, denn Varatharajahs Roman will über weite Strecken auch eine Reflexion über Sprache sein: »Es muss eine Sprache geben, die nichts zeigt und nichts verbirgt; die jede Rede wendet, und alle Bilder aufgegeben hat; die trägt, was wir nicht ertragen können.«

Eine Sprache wäre dies vermutlich, die Laute und Wörter findet für den Schmerz, für Tausende Tote in einem Bürgerkrieg, für einen Mann, der in einem hessischen Kaff einen anderen Mann schlachtet und verspeist, für die Sehnsucht nach einem geliebten Menschen. Jedoch, so angemessen eine solche Suche nach einer wahren Sprache im ersten Falle sein dürfte, wirkt sie im zweiten und dritten meist schlicht bemüht, erst recht, wenn beide aufeinander bezogen werden: »Es gibt zwei Bedeutungen von verzehren. Erstens: essen, bis nichts mehr von etwas übrig ist. Zweitens: nach jemandem verlangen. Jemanden vermissen.«

Nicht erhellender ist eine weitere motivische Ebene, auf der Varatharajah, der unter anderem evangelische Theologie studiert hat, in biblischen Texten nach einer Lösung sowohl für das Leib-Seele- als auch für das Kannibalismus-Problem fahndet. Meiwes bekennt bei ihm, er habe Jesu Worte wörtlich genommen: »Das ist mein Leib, der für euch gegeben wurde. Tut dies zu meinem Gedächtnis.«

Möglich, dass der Autor diesen makabren Scherz bei Meiwes abgeschrieben hat - die Aussage wird dadurch aber nicht tiefgründiger, und gerade das will dieser schmale Roman doch, auf enervierende Weise, unbedingt sein: tiefgründig, gehaltvoll, schwer. Gegen diese Sehnsucht wäre nichts zu sagen, wenn nicht auf den meisten Seiten nur ihre Behauptung markiert würde, wenn man daran glauben dürfte, dass es hier mehr zu holen gibt außer Querverbindungen zwischen Theologie, Menschenfresserei und Liebeskummer.

Oft fällt das Schlüsselwort »Abstand«, es behauptet eine einigende Basis dieser Themen. Auch in die Gestaltung ist es eingegangen: Varatharajah trennt Wörter nicht mit Bindestrichen, sondern reißt sie nach den Buchstaben entzwei, die an das Zeilenende geraten; dann wieder gewährt er einzelnen von ihnen großzügig Platz im Weißraum der Seiten. Diese an Poesie angelehnte Form korrespondiert ziemlich gewollt mit dem Inhalt der Erzählstränge, die den Abstand jeweils inhaltlich verhandeln.

Meiwes hat sich einen Mann einverleiben wollen, er war einsam, sehnte sich nach einem Gefährten. Der Erzähler wiederum hat das richtige Distanz-Nähe-Verhältnis zu seiner Expartnerin nicht gefunden; erst fallen sie selbst seelisch wie sexuell übereinander her, dann gibt er ihr den Laufpass und leidet an der Trennung. Man darf »Rot (Hunger)« somit als Versuch einer Bestimmung adäquater räumlicher, romantischer und libidinöser Verhältnisse lesen. Es sollte bei dem Versuch bleiben.

Senthuran Varatharajah: Rot (Hunger). S. Fischer, 120 S., geb., 23 €.

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