Rückfall in nationalen Egoismus

Ernst Piper erhellt deutsche Ideengeschichte im Zeitalter der Extreme und diskutiert über aktuelle Erinnerungs- und Gedenkkultur

  • Manfred Weißbecker
  • Lesedauer: 3 Min.

Es gilt, wird von unentbehrlichem Erinnern an Vergangenes gesprochen, zu berichten, deutend zu erörtern und Ursachen zu erklären. Zu fragen ist stets: Woran erinnern, weshalb und wie? Antworten gibt es zuhauf. Beliebig viele sogar. Passende und unpassende, richtige und falsche, gegensätzliche zumal, da stets an divergierende Interessen und unterschiedliche Zeiten gebunden. Nach neuen Antworten ist zu suchen in unserer so wild bewegten, rechtslastig und friedlos gewordenen Gegenwart. Erinnern findet heute statt in neuen Kriegszeiten, in Zeiten zunehmender nationalistischer und rassistischer Vergiftung des gesellschaftlichen Klimas.

Was nach Faschismus und Weltkrieg nahezu undenkbar schien, mündet vielfach in neues Unheil. Dies zu verhindern, verlangt den erhellenden Blick zurück. Insofern darf das Erscheinen des vorliegenden Buches sehr begrüßt werden. Ernst Piper, der sich selbst als »liberalen Antifaschisten« bezeichnet, unternimmt den Versuch, rund ein Dutzend früher verfasster Vorträge und Artikel sowie vier neu geschriebene Beiträge zu nutzen als Plädoyer für eine zeitgemäße Erinnerungskultur. Den Titel des Buches übernahm er vom amerikanischen Historiker Raul Hilberg, dem Verfasser eines Standardwerkes zur Geschichte des Holocaust, verbunden mit der Aussage, dass es zur Erinnerung an Auschwitz keine Alternative gibt.

Piper betätigte sich zunächst zwei Jahrzehnte als Verleger und seit 2002 als Historiker. Beides spiegelt sich durchaus im vorliegenden Band wider. Oft beeindrucken Quellen, die von diversen Auseinandersetzungen zwischen (west)deutschen Historikern und ihren Verlegern zeugen, was in einem Fall sogar Licht auf Hintergründiges im sogenannten Historikerstreit während der 1980er Jahre wirft. Lesenswert geraten sind jene Beiträge, die weit über die politische Geschichte hinaus in kulturelle und literarische Bereiche gehen. Informativ sein Nachdenken über das »kulturelle Leben im Kaiserreich« sowie über die »Grundlinien der nationalsozialistischen Kulturpolitik«, während die Beiträge über das Zeitalter der Extreme oder über die ersten Jahre der Weimarer Republik eher Überblickartiges bieten und kaum den Rahmen bekannter totalitarismustheoretischer Deutungen verlassen.

Ideologie- und Kulturgeschichtliches sieht sich indessen gut in biografische Darstellungen eingebunden. In solcher Weise werden unter anderem Paul de Lagarde, Ernst Jünger, Ernst Barlach, Alfred Rosenberg und Oswald Spengler behandelt. Ebenso die Historiker Martin Broszat und Ernst Nolte. Zeitgeistiges scheint darin auf, das Wirksamkeit nationalistischer, rassistischer und vor allem antisemitischer Leitideen erhellen hilft. Deutlich wird vor dem »Rückfall in nationalen Egoismus« gewarnt.

Jene Beiträge, die eher historiografiegeschichtlichen Charakter tragen, verweisen deutlich auf allzu lang existierende Fehlstellen westdeutscher Geschichtsschreibung. Dazu gehören insbesondere der über Saul Friedländer oder der zum Umgang der (west)deutschen Öffentlichkeit mit der »Schuldfrage«.

Das Buch ermöglicht gewiss ergänzende und weiterführende Debatten über eine Erinnerungs- und Gedenkkultur, die eine breite Bewegung gegen den Antisemitismus, aber auch gegen alle Rechtsentwicklungstrends sowie gegen neuerliche Friedensgefährdung zu fördern vermag.

Ernst Piper: Diese Vergangenheit nicht zu kennen heißt, sich selbst nicht zu kennen. Deutsche Geschichte im Zeitalter der Extreme. Ch.-Links-Verlag, 330 S., geb., 26 €.

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