- Kultur
- Mecklenburgisches Staatstheater Schwerin
Das große Zittern
Thomas Manns Roman »Der Zauberberg« am Mecklenburgischen Staatstheater Schwerin
Die Bühne kreist, die Zeit auch. Immer steht man wieder an dem Punkt, den man längst zurückgelassen glaubte. Das Wohnzimmer wird zur Welt, eng und ohne Ausblick. Vorn laufen Stehlampen im Kreis. Schattenhafte Gestalten tragen sie wie Lampions, die wenig erleuchten: bloße Lichtornamente.
Dieser effektvolle Anfang von Sascha Hawemanns »Zauberberg«-Inszenierung deutet auf große Vorzüge und ebenso große Schwächen. Starke Bilder, die leider immer wieder in Beliebigkeit verpuffen, überdeutliche Gesten, die ins Nichts gehen. Der Wille, Thomas Manns Meisterwerk über den Untergang des alten Europas im Ersten Weltkrieg nicht als bloß bebildertes Sprechtheater auf die Bühne zu bringen, ist überdeutlich. Es geht um Atmosphäre-Veränderungen: wachsende Unruhe, Nervosität, schlecht verborgene Angst vor dem Kommenden.
Ein großes Zittern überfällt das »Zauberberg«-Personal und das nicht erst im Schneesturm, in dem Hans Castorp beinahe den Tod findet. Es deutet sich an im Kreis der Wohlsituierten, die sich hier im internationalen Sanatorium »Berghof« aus einer ihnen fremd und unheimlich gewordenen Welt zurückgezogen haben.
Unsichtbare Eruptionen erschüttern jeden Einzelnen der versammelten Kranken, die oft nicht mehr auf Gesundung hoffen, sondern darauf, dass sich der Zustand der Auflösung aller Verhältnisse – die Krankheit zum Tode – noch eine Weile hinzieht. Man simuliert Leben. Immer wieder wirft hier einer Konfetti: ein Karneval, der sich auf groteske Weise zum Totentanz einer Zeit steigert. Unter der Oberfläche von Tradition und Konvention brodelt es. Allzu hektische Handbewegungen untermalen die Reden, man gestikuliert wild, schreit viel. Die Worte haben am Ende keinen Sinn mehr.
Hans Castorp kommt aus Hamburg auf Besuch zu seinem Vetter Joachim Ziemßen, dem Militär mit kranker Lunge. Castorp ist bei seiner Ankunft selbstverständlich gesund, er kommt bloß als Besucher, drei Wochen maximal, versichert er beharrlich, trotz der ironischen Blicke. Nein, er gehört nicht zu diesen moribunden Gestalten hier, er doch nicht! Doch schon nach einem Tag hier oben auf dem Berg hat er seinen Zeitsinn verloren – und Fieber wie alle hier. Ein Tag, ein Monat oder ein Jahr, wo ist der Unterschied? So lebt man im Schattenreich des Deliriums. Das ist er, der Zauberberg, ein aus der Zeit gefallener Ort, an dem man sehr schnell – so wie Hans Castorp – das Gefühl haben kann, der Welt abhanden gekommen zu sein. Auch wenn gerade das ein furchtbarer Irrtum ist. Wir können die Welt vergessen, aber die Welt vergisst uns nicht.
Das Thema Krankheit beschäftigte Thomas Mann bereits in seinem Roman-Erstling »Buddenbrooks«, an dessen Ende er ein Kapitel über Typhus schrieb, eine Krankheit, die er ebenso präzise ausdeutet wie im »Zauberberg« auf fast tausend Seiten die Tuberkulose, diese »Geniekrankheit«, die angeblich bei den Schwindsüchtigen einen tödlich verlaufenden Vergeistigungsprozess in Gang setzt, was Thomas Mann als Mythos bloßstellt. Und auch 1903 kultivierte er bereits den doppelten Blick auf die Typhuserkrankung. Diese sei zum einen »die unangenehme Folge einer Infektion, die sich vielleicht hätte vermeiden lassen und der mit den Mitteln der Wissenschaft entgegenzuwirken ist«, zum anderen aber einfach »eine Form der Auflösung«, das »Gewand des Todes selbst.«
Im »Zauberberg« jedoch kommt eine neue Dimension hinzu, die Relativität der Zeit. Denn hier oben »ändert man seine Begriffe«. Hier läuft alles auf jene Zeit hinaus, »die nicht von der Art der Bahnhofsuhren ist«. Zwischen den Polen von Krankheit und Zeit also stellt dann auch folgerichtig Sascha Hawemann seine »Zauberberg«-Interpretation. Wichtig ist ihm ganz offensichtlich, dass das Spiel nicht den Worten folgt, sondern die Worte sich aus der Szene heraus entwickeln.
Auch Thomas Mann wirft die Gäste (eher Insassen) des »Berghofs« mit ihrer eigenen Krankheit mitten in die Krankheit der Zeit hinein. Wohin führt dies? Zum Tod oder doch zur Gesundung? Der Weg, die Hysterien der Vorkriegszeit zu zeigen, führt für Hawemann über das Groteske, die Deformation des Humanen. Am Ende haben wir dann statt kontrollierter Bewegungen lauter unkontrollierte Spasmen.
Diesem Inszenierungsansatz kann man folgen, jedenfalls dann, wenn man den inneren geistigen Widerspruch, um den es Thomas Mann im »Zauberberg« geht, deutlich macht. Diesen unversöhnlichen Gegensatz repräsentieren Ludovico Settembrini als klassischer Vertreter der Aufklärung, mit seinem Lobpreis von Wissenschaft und Vernunft, die die durch Unwissenheit dunklen Verhältnisse immer weiter erhellen. Sein Widersacher ist Leo Naphta, ein kleiner hässlicher Mystiker mit großer dämonischen Ausstrahlung. Für ihn bedeutet die Aufklärung eine Selbstvergötzung der Vernunft, die zur ständigen Erneuerung der bestehenden Machtverhältnisse führt. In Gestalt Settembrinis zeigen sie immer ihr freundlichstes Lächeln. Doch unter dieser Flagge kann man erfolgreich die Welt erobern und Menschen ausbeuten.
Beide Intellektuelle führen nun – das ist das Zentrum des Romans – einen erbitterten Streit um die Seele von Hans Castorp. Naphta, mit dem Hang zum Fanatismus, tötet sich selbst mittels jenes Duells, das er Settembrini wegen einer angeblichen Beleidigung abfordert. Naphta, bei Thomas Mann halb Katholik, halb Kommunist, ist dem Philosophen Georg Lukács nachempfunden – wahrlich kein Leichtgewicht.
Hawemann besetzt Settembrini mit dem noch recht jungen Oscar Hoppe, der wie ein eleganter Zwillingsbruder von Hans Castop wirkt. Er tänzelt sich mit Anstand durch diese Zumutung. Aus welchen Gründen der Regisseur jedoch die Rostocker Schauspielschülerin Laura Fouquet als »Frau Naphta« besetzt, bleibt sein Geheimnis. Laura Fouquet, gleich doppelt besetzt, war am Anfang des »Zauberbergs« eine überzeugende Klara Kleefeld vom »Verein halbe Lunge«, die Verkörperung des »Zauberberg«-Proletariats. Die Todkranke muss, weil zu arm, um gleichwertiger Gast unter Gästen zu sein, beim Personal mitarbeiten, bis sie einen schnellen und angstvoll-unscheinbaren Tod stirbt.
Nun also kehrt Laura Fouquet in der wohl schwierigsten Figur des Abends, als Naphta, wieder – und man erblickt in dieser Überforderung einen Regiefehler, denn ihr Talent hatte die junge Schauspielerin an diesem Abend ja bereits bewiesen. Warum nur muss sie wie der Glöckner Quasimodo gebückt dem Widersacher Settembrini hinterherhumpeln, dabei diesem ständig ihre immer radikaleren Thesen über den Zustand der Zivilisation hinterherbrüllen? Will Hawemann so seine Distanz dazu plakatieren? Doch er verrät damit die heimliche Hauptfigur des Romans, denn zweifellos ist Thomas Mann Naphta ebenso nahfern wie der Schönredner Settembrini.
Wie klug hatte dagegen doch Hans W. Geißendörfer in seiner »Zauberberg«-Verfilmung von 1982, (das war, bevor er zum »Lindenstraßen«-Serienregisseur wurde), die Figur angelegt. Charles Aznavour spielte Naphta – wohlwissend, dass man die radikalsten, die schrillsten Ausbrüche nicht schreien, sondern flüstern, besser noch hauchen muss!
Leider häufen sich gegen Ende solch unpräzise Szenen. Da ist Hans Castorp, der sich im Schneesturm verirrt und zu halluzinieren beginnt. Wie sehen ihn aber nur exaltiert frieren, über die Maßen zittern – aber das ist noch vor dem Punkt, wo er wirklich in Todesnähe gerät. Denn da hört er auf zu frieren, es wird ihm gefährlich heiß. So weit kommt es hier nicht.
Den Auftritt von Mynher Peeperkorn (Frank Wiegard, in einer Doppelrolle mit Hofrat Behrens) muss man eine Peinlichkeit nennen, ein lächerlicher Schwadroneur tritt uns entgegen, mehr nicht. Warum wohl hatte Geißendörfer gerade diese Rolle (die Gerhart Hauptmann nachempfunden ist) mit dem schauspielerischen Schwergewicht Rod Steiger besetzt? Immerhin, Jennifer Salbel als französische Russin Madame Chauchat, gelingt die Gratwanderung von exzentrischer Gesellschaftsdame und unbehauster Seele, sie ist eines jenes paradoxen Wesen, die den Zauberberg bevölkern. Im Ganzen jedoch ist da zu viel schriller Jahrmarkt, zu viel lautsprecherische Aktion, zu wenig Stille und Sinn fürs Abgründige. Für das im Verborgenen wirkende Zerstörerische aber haben wir doch gerade jetzt in Corona- und Kriegszeiten einen Sinn entwickelt, oder?
Statt Settembrini und Naphta geraten so Hans Castorp und sein Vetter Ziemßen ins Zentrum der Inszenierung. Zwei Mittelmäßige, zwei ohne Talent, wie uns Thomas Mann nahelegt, auf die es scheinbar nicht ankommt, bloßes Material der Weltgeschichte? Robert Höller macht klugerweise aus Castorp einen ebenso autonomen wie aufmerksamen Beobachter, einen, mit dem vielleicht doch noch zu rechnen ist – und bei Marko Dyrlich gerät der kantige Militär Ziemßen, der dann doch im Sanatoriumsbett stirbt, fast zur tragischen Figur.
»Der Zauberberg« endet mit Kriegsausbruch Sommer 1914. Ende der scheinbaren »Berghof«-Idylle, die auch eine realer Rückzugsraum war. Eine dunkle Vision beendet das Buch, an die man gerade jetzt nicht glauben will, obwohl sie etwas Suggestives hat: »Deine Aussichten sind schlecht; das arge Tanzvergnügen, worein du gerissen bist, dauert noch manches Sündenjährchen, und wir möchten nicht hoch wetten, dass du davonkommst.«
Nächste Vorstellungen 9.4., 1.5., 5.5., 20.5.
www.mecklenburgisches-staatstheater.de
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