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Die Frage kann lauten: Essen oder heizen?

Wohnungsverbände dreier ostdeutscher Bundesländer warnen vor sozialen Unruhen durch explodierende Nebenkosten

  • Hendrik Lasch
  • Lesedauer: 4 Min.

Eine Wohnungsgesellschaft auf dem Land in Sachsen-Anhalt muss den Mietern ihrer etwa 1000 Wohnungen dieser Tage unangenehme Post schicken. Der Gasversorger hat den Vertrag für die Fernwärme gekündigt und einen neuen angeboten – mit einer Preissteigerung von satten 162 Prozent. Nun müssen die Vorauszahlungen der Mieter für die Nebenkosten angepasst werden. Sie steigen um etwa 160 Euro, »und zwar im Monat«, sagte Jens Zillmann, Direktor des Landesverbands der Wohnungswirtschaft: »Im Jahr sind das 2000 Euro allein an höheren Heizkosten!«

Das Beispiel ist extrem, ein Einzelfall ist es nicht. Die kommunalen und genossenschaftlichen Wohnungsunternehmen in Sachsen, Thüringen und Sachsen-Anhalt rechnen wegen kletternder Energiepreise sowie weiterer Preisanhebungen damit, dass die Nebenkosten flächendeckend im Schnitt um 20 bis 30 Prozent steigen. Ein Durchschnittshaushalt müsse für eine 60-Quadratmeter-Wohnung rund 1000 Euro im Jahr mehr einplanen. Die Spirale sei »nach oben offen«, sagte Miriam Luserke, Vorstand des sächsischen Verbands der Wohnungsgenossenschaften.

Vor möglichen Folgen warnten die Spitzen der regionalen Vermieterverbände jetzt gemeinsamen in drastischen Worten. »In einzelnen Haushalten kann das durchaus zu der Frage führen: Essen oder heizen?«, sagte Frank Emrich vom Verband der Thüringer Wohnungs- und Immobilienwirtschaft. Er warnt vor einer Gefährdung des sozialen Friedens, die sich aber zeitverzögert einstellen werde. Die entsprechenden Mitteilungen würden im Sommer 2023 in den Briefkästen der Mieter landen. Wenn es nicht gelinge, für Entlastung und Ausgleich zu sorgen, seien soziale Unruhen nicht ausgeschlossen: »Dann sehen wir Menschen auf der Straße.« Zillmann sprach von »sozialem Sprengstoff«.

Die Vermieter machen für die Preisexplosion nicht allein den russischen Krieg gegen die Ukraine und die damit verbundenen gestörten Beziehungen zu einem zentralen Lieferanten für Erdöl und -gas verantwortlich. Die Preiskurve bei Erdgas wie bei Strom zeige bereits seit Oktober 2021 »steil bergauf«, sagte Rainer Seifert, Direktor des kommunalen Vermieterverbands in Sachsen. Bei Strom seien die Preise schon zu diesem Zeitpunkt auf das Drei- bis Vierfache gestiegen. Wesentlicher Grund seien Preisbildungsmechanismen an der Strombörse.

Auch bei Gas sei es schon vor einem halben Jahr zu dramatischen Anstiegen gekommen. Diese hätten zunächst besonders Versorger zu spüren bekommen, die keine langfristig laufenden Verträge hätten. Der Krieg habe die Probleme seit Ende Februar »verschärft, aber er ist nicht die alleinige Ursache«, so Seifert. Er appellierte an den Staat, regulierend einzugreifen. Das System auf dem Strommarkt etwa müsse »geändert werden, und sei es kurzfristig«. Emrich forderte die öffentliche Hand zudem auf, auf Steuern und Umlagen für Energiepreise zu verzichten.

Die Verbände merkten an, dass besonders sozial schwache Mieter von den Preisexplosionen getroffen würden. So stelle die Bundesregierung zwar einen Zuschuss zu den Heizkosten für Bezieher von Wohngeld in Aussicht, der erst mit 155 Euro angesetzt war und nach Protesten auf 270 Euro erhöht wurde. Angesichts der tatsächlich zu erwartenden Preissteigerungen sagte Zillmann aber trocken: »Da fehlt eine Null.«

Erhebliche Folgen hätten die steigenden Nebenkosten auch für Landkreise und kreisfreie Städte, die für Bezieher von Arbeitslosengeld II die Kosten der Unterkunft (KdU) übernehmen. Das betrifft in Sachsen-Anhalt rund ein Fünftel der Mieter in Genossenschaften und 30 Prozent der Mieter bei kommunalen Gesellschaften. Die entsprechenden Sätze hätten schon bisher unterhalb der Bestandsmieten gelegen. Gingen nun die Nebenkosten in die Höhe, drohten den ohnehin vielfach überschuldeten Kommunen nach Angaben Zillmanns »massive Nachzahlungen«.

Betont wird jedoch auch, dass nicht nur Menschen hart getroffen sind, die schon jetzt Sozialleistungen beziehen. So verwies Emrich auf Mieter, die bisher »knapp über die Runden kommen«, alle zwei Jahre in den Urlaub hätten fahren und ab und an ein wenig Geld für Neuanschaffungen zur Seite legen können. Darauf müssten sie künftig zugunsten der Ausgaben für das Wohnen womöglich verzichten – oder sie bräuchten gar »auch bald staatliche Hilfe«, warnte er.

Die enormen Preiserhöhungen könnten schließlich auch für die Wohnungsunternehmen wirtschaftliche und womöglich existenzielle Folgen haben. Diese müssten etwa bei der Fernwärme in Vorleistung gegenüber den Versorgern gehen und sich das Geld anschließend von den Mietern zurückholen, sagte Roland Meißner, Direktor im Verband der Wohnungsgenossenschaften in Sachsen-Anhalt: »Wir sind Inkassounternehmen und Überbringer der schlechten Nachrichten zugleich.« Könnten Mieter nicht zahlen, bleibe man auf den Auslagen zunächst sitzen. Selbst bei kleineren Wohnungsunternehmen gehe es dabei schnell um Millionenbeträge.

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