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Es droht ein Milliarden-Strohfeuer

Abos im Nahverkehr sollen drei Monate lang nur neun Euro kosten - ohne schnelle Angebotsoffensive wird die Wirkung verpuffen

  • Nicolas Šustr
  • Lesedauer: 9 Min.
Nur an der neuen Straßenbahnstrecke vom Hauptbahnhof zum U-Bahnhof Turmstraße wird in Berlin gerade gebaut.
Nur an der neuen Straßenbahnstrecke vom Hauptbahnhof zum U-Bahnhof Turmstraße wird in Berlin gerade gebaut.

»Runter, und zwar rasch« müsse man von den CO2-Emissionen, sagt Klimaschutz- und Verkehrssenatorin Bettina Jarasch (Grüne) am Donnerstag im Berliner Abgeordnetenhaus. Denn: »Wenn wir das aber nicht tun, steuern wir auf drei Grad Erderwärmung zu und das wird unsere Lebensweise auf diesem Planeten stärker verändern, als wir uns das auch nur vorzustellen wagen.« Dazu komme noch die Abhängigkeit von Kohle, Gas und Öl aus Russland, die in Berlin noch stärker ausgeprägt sei als im Rest der Republik.

»Mehr Mobilität mit weniger Autoverkehr«, so sieht laut Jarasch die Lösung des Problems im Verkehrsbereich aus. Konkret »mehr und einen attraktiveren Öffentlichen Personennahverkehr, mehr Radwege«. Ein aktueller Beitrag des Bundes könnte das von der rot-grün-gelben Koalition im Bund angekündigte 9-Euro-Ticket sein. Für drei Monate sollen Bahnen und Busse für diesen Preis nutzbar sein. Doch noch sind viele Fragen offen, zum Beispiel die der räumlichen Gültigkeit, des Umgangs mit Abonnenten, Schülern, Studierenden, Transferleistungsempfangenden. Berlin will, dass auch diese Gruppen profitieren. Das Brandenburgische Infrastrukturministerium erklärt auf nd-Anfrage, dass man sich im Rahmen der Verhandlungen zwischen Bund, Ländern und Verbänden bemüht, »passgenaue Lösungen« für Bestandskunden zu finden. »Das gilt ausdrücklich auch besonders für die Studenten und Azubis«, heißt es weiter.

Die Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) haben in einem »nd« vorliegenden internen Papier sogar einen dreimonatigen Nulltarif für Stammkunden gefordert und gehen von Mehrkosten von 13,5 Millionen Euro dafür aus. Damit ist das Unternehmen auf einer Linie mit allen 16 Länderverkehrsministern. Diese forderten kürzlich einen durch den Bund finanzierten auf drei Monate befristeten Nulltarif, »um den administrativen Aufwand zu minimieren und die Maßnahme zeitnah und bundeseinheitlich einzuführen«, so das Infrastrukturministerium. Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) lehnt einen Nulltarif ab, weil sonst der Erfolg der Aktion nicht gemessen werden könne.

Doch zunächst muss der Bund seine Hausaufgaben machen und klären, wie die konkrete Ausgestaltung aussehen soll. Im Verkehrsausschuss des Bundestages hat der Parlamentarische Staatssekretär Michael Theurer (FDP) im Bundesverkehrsministerium berichtet, dass der Bund von 2,5 Milliarden Euro Kosten ausgeht.

»Das 9-Euro-Ticket ist leider ein Schnellschuss, der die gesamte Branche überrascht hat«, sagt Stefan Weigele zu »nd«. Er ist Geschäftsführer von Civity, einem der führenden Beratungsunternehmen im Verkehrssektor. Die dreimonatige Abopreisreduktion koste zig Milliarden, verzögere andere Vorhaben und »wird nicht zu dauerhaft höheren Fahrgastzahlen führen«, kritisiert er. Tatsächlich wurde bei der Sitzung des Verkehrsausschusses des Bundestags deutlich, dass die Regionalisierungsmittel des Bundes dieses Jahr trotz gegenteiliger Vereinbarungen im Koalitionsvertrag nicht erhöht werden sollen. Mit diesen Geldern finanzieren die Länder Betrieb und Ausbau hauptsächlich des Eisenbahn-Nahverkehrs. Stefan Weigele warnt: »Wenn das Ticket tatsächlich bundesweit gelten sollte, wie derzeit diskutiert wird, droht diese Hauruck-Aktion eher dem System zusätzlich Geld zu entziehen, weil ein gewisser Teil der Menschen dann statt Fernverkehrsleistungen den Nahverkehr nutzen würde.« Punktuell drohten auch Überfüllungen, wie man sie aus den Zeiten der Einführung des Schönes-Wochenende-Tickets der Deutschen Bahn 1995 beobachtet hatte.

Die Erwartungen, wie sich die günstigen Monatskarten auf die Fahrgastzahlen auswirken, sind sehr unterschiedlich. Während man in Hamburg von einem 20-prozentigen Zuwachs ausgeht, werden in Berlin nur ein paar Prozent mehr Fahrgäste erwartet.

»Es droht alles nach den drei Monaten wieder zu verpuffen«, sagt Kristian Ronneburg zu »nd«. Er ist Verkehrsexperte der Linksfraktion im Abgeordnetenhaus. Zumal zum Jahreswechsel auch wieder Tariferhöhungen im Verkehrsverbund Berlin-Brandenburg (VBB) anstehen. Diskutiert werde »eine Tarifanpassung um rund 5,6 Prozent«, heißt es vom brandenburgischen Infrastrukturministerium auf nd-Anfrage. Basis sei der Tarifindex des VBB, der sich an den allgemeinen Preissteigerungen orientiert.

»Ich finde es richtig, dass die Branche diese Aktion konstruktiv aufgreift, letztendlich ist es ja eine politische Entscheidung gewesen, um der unsinnigen Absenkung der Energiesteuer auf Kraftstoffe etwas entgegenzusetzen«, unterstreicht Mobilitätsexperte Stefan Weigele.

Die BVG hat in einem internen Maßnahmenpapier aufgezeigt, wie kurzfristig Angebotsausweitungen möglich sein können. Durch längere Betriebszeiten und dichtere Takte mit der vorhandenen Busflotte könnten 300 000 zusätzliche Plätze täglich angeboten werden, heißt es dort. In knapp fünf Monaten ließe sich das demnach umsetzen. Die Zeit wird benötigt, um zusätzliche Fahrer zu rekrutieren und zu schulen. Die Einführung des Zehn-Minuten-Takts auf allen wichtigen Buslinien auch außerhalb des Zentrums bräuchte einen Vorlauf zwischen fünf Monaten bis zu einem Jahr. Benötigt würden laut Papier 70 bis 80 zusätzliche Busse. Weitere 50 Busse wären nötig, um die 20 wichtigsten Verbindungen ins Umland rund 150 000 Einwohner im Zehn-Minuten-Takt anbinden zu können. Ab Bestellung durch die Aufgabenträger könnten in rund einem halben Jahr die Verbindungen nach Potsdam, Falkensee, Erkner oder Schönefeld deutlich attraktiver werden.

»Solange die S-Bahn noch nicht so leistungsfähig ist, wie wir sie gerne hätten, muss ein attraktives Ländergrenzen überschreitendes Busnetz aushelfen«, sagt Jens Wieseke vom Berliner Fahrgastverband IGEB zu »nd«. »Die Busse müssen auf ganzer Länge bevorrechtigt werden«, fordert er. Das ginge über die von der BVG ebenfalls geforderten Pop-up-Busspuren, für deren Genehmigung und Markierung das Landesunternehmen zehn Wochen veranschlagt. »Der Fahrplan der Umlandbusse muss so gestrickt sein, dass ich auch um halb eins in der Nacht noch nach Hause komme. Ein Theaterbesuch inklusive eines anschließenden Gaststättenbesuchs in Berlin muss möglich sein, ohne auf das Auto zurückgreifen zu müssen«, sagt der Fahrgastvertreter. »Spätestens im September müsste die Angebotsoffensive auf der Straßen ankommen«, fordert Wieseke. Das 9-Euro-Monatsticket wird wahrscheinlich zum 1. Juni umgesetzt werden können.

Ob das 9-Euro-Ticket ein Auftakt für eine nachhaltige ÖPNV-Offensive sein kann, sei schwer zu sagen, so Mobilitätsexperte Stefan Weigele. Eigentlich müsste das Geld »klar in den Angebotsausbau gesteckt werden«. Einerseits fehle trotz perspektivisch steigender Regionalisierungsmittel für viele Projekte das Geld, andererseits gehe der Ausbau bisher im Schneckentempo voran. »Wenn man sich vor Augen führt, dass die banale Reaktivierung eines Haltepunktes an einer Eisenbahnstrecke bisweilen Jahrzehnte dauert, dann ist fraglich, wie eine schnelle Angebotsoffensive kommen soll«, sagt Civity-Gründer Weigele. Selbst beim vergleichsweise einfachen Ausbau des Busangebots gerade auf dem Land gehe es nur zäh voran. »Es gibt dort meist sogar Haltestellen, aber es fährt halt nichts, außer zweimal am Tag der Schulbus.« Österreich und die Schweiz seien den deutschen Regionen weit voraus.

Auch Berlin tut sich mit dem Ausbau des Schienenverkehrs schwer. Als einzige Straßenbahn-Neubaustrecke ist die Verlängerung vom Hauptbahnhof zur Turmstraße im Bau. Diesen Samstag soll nach nd-Informationen die erste Testfahrt auf dem Teilstück in der Invalidenstraße absolviert werden. Die Inbetriebnahme zum U-Bahnhof Turmstraße ist für 2023 vorgesehen.

Das Planfeststellungsverfahren für die Verlegung der Tramlinie 21 zum Bahnhof Ostkreuz hängt seit Jahren in der Dauerschleife. Die Unterlagen müssen wegen mehrerer Fehler demnächst das dritte Mal ausgelegt werden. Wann genau das sein wird, kann die Senatsmobilitätsverwaltung nicht sagen. Denn nach Hunderten Einwendungen von Anwohnern hat nun die Feuerwehr Bedenken angemeldet. »Aus Sicht unseres Fachbereichs, des Vorbeugenden Brand- und Gefahrenschutzes, geht es hierbei konkret um die Sicherstellung des zweiten Rettungsweges über die Drehleitern der Feuerwehr für die angrenzenden Wohngebäude im Bestand«, heißt es auf nd-Anfrage dort. Die Oberleitungen könnten demnach eine Gefahr bei Einsätzen darstellen. Warum das in der Sonntagstraße ein Problem ist, in den umliegenden Straßen, wo bereits seit über 100 Jahren Straßenbahnen fahren, nicht, erklärt die Feuerwehr so: »Die bestehenden Straßenbahnlinien genießen Bestandsschutz.« Derzeit werde gemeinsam mit BVG und Senatsverwaltung an Lösungen gearbeitet.

»Aktuell gibt es keine klaren Auskünfte des Senats zur Fortführung des Planfeststellungsverfahrens. Das bereitet mir große Sorgen und ich rechne damit, dass es erhebliche zeitliche Verzögerungen geben wird«, beklagt Linke-Verkehrsexperte Kristian Ronneburg. Die Senatsverwaltung sollte sich »intensiv der Frage widmen, wie dieses langwierige Verfahren - bei der Würdigung aller Einwendungen - endlich einer Lösung zugeführt werden kann«.

Mitte März kam zum S-Bahn-Ausbau die erfreuliche Nachricht, dass endlich eine Finanzierungsvereinbarung für die Planung der zweiten Tranche von Maßnahmen im Rahmen des Berlin-Brandenburger Eisenbahn-Infrastruktur-Ausbauprojekts i2030 geschlossen worden ist. Es geht um zusätzliche Abstellgleise und dringend für einen stabileren Betrieb nötige zusätzliche Gleise an drei Bahnhöfen der Ringbahn. Außerdem um den zusätzlichen Bahnhof Kamenzer Damm an der Ortsteilgrenze von Lankwitz und Mariendorf sowie den teilweise zweigleisigen Ausbau der S2 zwischen Buch und Bernau für einen Zehn-Minuten-Takt. »Zuerst werden die Abstellanlagen und Zugbildungsanlagen in die Umsetzung kommen. Hier wird damit gerechnet, dass erste Teilprojekte ab 2026 abgeschlossen werden, um auch die zusätzlich bestellten S-Bahn-Züge ins Netz integrieren zu können«, erklärt VBB-Sprecher Joachim Radünz auf nd-Anfrage. Für die Strecke nach Bernau soll die Vorplanung 2024 abgeschlossen sein. »Besonders wichtig sind die Teilmaßnahmen zweigleisiger Ausbau Buch-Bernau, die Verkehrsstation Kamenzer Damm und die Abstellanlage Hundekehle«, sagt Linke-Politiker Ronneburg. »Sehr erfreulich« sei es, dass es auch bei der Ringbahn vorangehe. »Das sind die ersten Ausbauten bei der S-Bahn, die die Fahrgäste spüren werden«, freut sich auch Fahrgastlobbyist Jens Wieseke.

Für den im Juni terminierten Bahngipfel der Länder Berlin und Brandenburg werden auch Einigungen für mehrere strittige Eisenbahn-Wiederaufbau- und Ausbauprojekte erwartet. Dazu gehört die seit dem Mauerbau 1961 unterbrochene Potsdamer Stammbahn, bei der die beiden Länder sich jahrelang in der Frage verhakt haben, ob der Wiederaufbau als S-Bahn- oder Regionalbahnstrecke erfolgen soll. Mobilitätssenatorin Bettina Jarasch hatte im Februar angekündigt, eine politische Paketlösung mit dem Nachbarbundesland vorzubereiten.

»Das Rückgrat für die Verbindungen ins nahe Umland muss die S-Bahn sein. Die Regionalbahn ist das Mittel der Wahl für weitere Strecken«, sagt Fahrgastvertreter Wieseke. Auf den von der Opposition und der SPD forcierten U-Bahn-Ausbau legt man in der Mobilitätsverwaltung offenbar recht wenig Wert. CDU-Verkehrspolitiker Oliver Friederici beklagte jüngst im Abgeordnetenhaus, dass nur 1,2 Millionen Euro Planungsmittel im Haushaltsentwurf 2022/2023 eingestellt seien. Vergleichsweise schnell, effizient und angemessen für die abzudeckenden Korridore in Berlin ist nun mal der Straßenbahnausbau.

»Einen Aufbruch, eine gesellschaftliche Debatte über einen massiv beschleunigten Ausbau, wie wir das gerade bei den Windrädern erleben, gibt es beim ÖPNV bisher nicht. Unter den bisherigen Voraussetzungen ist es utopisch, die Fahrgastzahl bis 2030 verdoppeln zu wollen«, sagt Mobilitätsexperte Stefan Weigele von Civity.

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