Neue Risse zwischen Berlin und Kiew

Nach der Absage an Frank-Walter Steinmeier will Bundeskanzler Olaf Scholz wohl vorerst nicht in die Ukraine

  • Max Zeising
  • Lesedauer: 5 Min.

Olaf Scholz hat die Angewohnheit, Fragen, die ihm gestellt wurden, gelegentlich nicht zu beantworten, oder Antworten auf Fragen zu geben, die ihm nicht gestellt wurden. Als der Bundeskanzler am Mittwoch ein 25-minütiges Interview mit dem RBB-Inforadio gab, schaffte er es über die komplette Zeit, die wichtigste Frage vollständig zu ignorieren: ob er denn gedenke, nach der Ausladung von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier die stattdessen an ihn gerichtete Einladung aus Kiew anzunehmen. Er telefoniere ja regelmäßig mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, sagte Scholz, und überhaupt, man sei in engem Austausch: »Es gibt kaum einen Regierungschef, der so intensive Kontakte zu mir hat.«

Es ist jedoch anzunehmen, dass Olaf Scholz dabei bleibt, nicht selbst nach Kiew zu reisen - anders als die Regierungs- oder Staatschefs aus Polen, Großbritannien, Österreich, Tschechien, Slowenien und der Slowakei, die der Ukraine im Kampf gegen die russischen Angreifer nicht nur am Telefonhörer, sondern auch vor Ort den Rücken gestärkt haben. Auch EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen war am vergangenen Freitag dort. Auf Scholz, der zuletzt wenige Tage vor Kriegsbeginn in der Ukraine war, wartet man seitdem vergeblich.

Wahrscheinlich vermag die kurzfristige Absage an Steinmeier ebenso wenig zur Motivation des Kanzlers beizutragen wie dessen zögerliche Haltung dazu, 1500 Kilometer östlich der deutschen Hauptstadt die Arme auch für den sozialdemokratischen Parteifreund zu öffnen. Vielmehr sind die Beziehungen zwischen Berlin und Kiew weiter abgekühlt, haben neue Risse bekommen. Die Gefahr einer Eiszeit droht just in dem Moment, in dem Russland das Feuer auf den Donbass intensiviert - jedenfalls wirkte Scholz über die Ausladung Steinmeiers regelrecht pikiert, gemessen an seiner sonstigen Zurückhaltung: Er wolle den Vorfall »gar nicht weiter kommentieren«, um hernach anzufügen, dass er ihn »jedenfalls etwas irritierend« fand, »um es höflich zu sagen«.

Selbst Johnson war vor Ort

Seit Kriegsbeginn knirscht es zwischen Berlin und Kiew: Während die ukrainische Seite mehr Unterstützung, vor allem militärische, einfordert, zeigt sich die deutsche Seite, je nach Blinkwinkel, recht ambivalent. Einerseits will der Bundeskanzler ein 100 Milliarden Euro schweres Rüstungspaket auf den Weg bringen, das nicht nur bei der Linken, sondern auch in Teilen der eigenen Reihen für heruntergeklappte Kinnladen sorgt. Andererseits wirkt Deutschland bei Waffenlieferungen und Diplomatie, gemessen an anderen europäischen Staaten und den USA, sogar vergleichsweise zögerlich. Selbst der oft belächelte Premierminister des Vereinigten Königreichs, Boris Johnson, schaffte es jüngst, geradezu staatsmännisch mit Wolodymyr Selenskyj durch die Straßen Kiews zu spazieren und damit Bilder der Geschlossenheit zu produzieren. Am Mittwoch trafen zudem Polens Präsident Andrzej Duda sowie die Staatschefs der drei baltischen Länder Litauen, Lettland und Estland in der Ukraine ein. Mit ihnen wollte auch Steinmeier reisen - doch daraus wurde bekanntlich nichts.

Stattdessen lud die Ukraine Scholz ein - doch der sieht offenbar kein Problem darin, vorerst nicht zu erscheinen. Ebenso begreift er sein Land auch gar nicht als Nachzügler, ganz im Gegenteil: »Deutschland hat hier eine entscheidende Weichenstellung vorgenommen.« In der Tat: Die Lieferung von Waffen in Kriegs- und Krisengebiete war stets ein deutsches No-Go - jetzt nicht mehr.

Nun gibt es hierzulande zwei Gruppen: Eine Minderheit vor allem auf linker Seite reibt sich immer noch fassungslos die Augen, dass die Bundesregierung diesen bisherigen verteidigungspolitischen Grundsatz einfach über Bord wirft, während andere das Scholz-Kabinett weiterhin der Verantwortungslosigkeit bezichtigen und mehr, mehr, mehr fordern.

Wie hältst du es mit Russland, Genosse?
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Eine Tendenz ist aber klar erkennbar: Der Forderung nach schwerem Gerät wird zunehmend nachgegeben, jüngst prominent durch Außenministerin Annalena Baerbock. In der SPD-Fraktion sieht man die Lieferung schwerer Waffen aber auch kritisch. So warnte Fraktionsvize Detlef Müller davor, die Menschen zu verunsichern: Die Leute hätten Angst, »dadurch direkt in einen Krieg gezogen zu werden«, sagte der Chemnitzer mit Verweis auf Gespräche in seinem Wahlkreis. Zugleich schränkte er ein: »Sollte es weitere Attacken der russischen Armee wie die auf Mariupol geben oder Chemiewaffen eingesetzt werden, dann müssen wir Waffenlieferungen neu bewerten.«

Ampel-Tross für weitere Waffen

Derweil sind die Ausschussvorsitzenden Michael Roth (SPD), Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP) und Anton Hofreiter (Grüne) von ihrem Kurzbesuch in der Ukraine wieder zurückgekehrt. Der dreiköpfige Ampel-Tross war am Dienstag in die westukrainische Stadt Lwiw gereist, um dort mit Abgeordneten des Parlaments Rada zu sprechen. Es war der hochrangigste Besuch einer deutschen Delegation in der Ukraine seit Kriegsbeginn vor sieben Wochen. Umgehend bekamen sie nicht nur die Verzweiflung der Ukrainer*innen zu spüren, sondern auch eine Wunschliste, bestehend aus einer Reihe von Waffen, präsentiert: Bilder von Panzern mit Typenbezeichnungen lagen auf dem Tisch. Die Abgeordneten baten die deutschen Gäste eindringlich, ihren Einfluss zu nutzen.

Hernach sprachen sich die drei Politiker*innen für weitere Waffenlieferungen, einen schnellstmöglichen Importstopp für russisches Öl und eine klare EU-Perspektive für die Ukraine aus. »Im Bundestag dürfte es dafür breite Mehrheiten geben«, heißt es in einer gemeinsamen Erklärung. Roth, Hofreiter und Strack-Zimmermann erklärten, dass sie in der Ukraine auf viel Sympathie und Offenheit gestoßen seien, aber: »Die Erwartungshaltung gegenüber Deutschland ist sehr groß.« Besonders bewegend sei die Begegnung mit schwer verletzten ukrainischen Soldaten im Krankenhaus gewesen: »Sie hat uns auch spüren lassen, zu welchen Verbrechen die russische Armee fähig ist - das dürfen wir nicht weiter zulassen.«

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