Ein Dorf erinnert an den Nazi-Mord

Mehr als 30 Jahre nach einem neonazistischen Mord beginnt im Ort des Geschehens die Aufarbeitung

  • Reimar Paul
  • Lesedauer: 3 Min.

Das Dorf Rosdorf bei Göttingen wird zu einem Gedenkort für Opfer rechter Gewalt. Ein Bündnis aus Parteien und Initiativen will an den Mord an Alexander Selchow vor mehr als 31 Jahren erinnern. Die Tat markierte einen Höhepunkt bei von Neonazis verübten Gewalttaten in Südniedersachsen zu jener Zeit.

Die Nazi-Skins Oliver Simon und Sven Scharf hatten eine Silvesterparty explizit mit dem Vorhaben verlassen, »herumschwirrende Linke durchzuklopfen«. Eine Viertelstunde nach Mitternacht trafen sie auf den Wehrpflichtigen und für seine antifaschistische Haltung bekannten Alexander Selchow und einen Begleiter. Dieser konnte flüchten, als die Neonazis Selchow attackierten. Während Scharf im später folgenden Prozess glaubhaft machen konnte, dass er den Soldaten wegen einer verbalen Auseinandersetzung am frühen Abend lediglich zur Rede stellen wollte, sprang Simon laut Gericht mit gezücktem Messer auf Selchow zu und versetzte ihm fünf Stiche in den rechten Arm und den Bauch. Der Angegriffene starb wenige Stunden später trotz einer Notoperation in der Göttinger Universitätsklinik an Blutverlust. Simon wurde zu sechs Jahren Jugendhaft verurteilt, Scharf bekam vier Wochen Dauerarrest. Beide waren als Mitglieder der - inzwischen verbotenen - Freiheitlich-Deutschen Arbeiterpartei (FAP) schon zuvor an zahlreichen rechten Übergriffen beteiligt.

Mehr als 30 Jahre nach dem Mord entschied der Rat der Gemeinde Rosdorf erst im vergangenen Jahr auf einen Antrag der Grünen, aber mit den Stimmen aller Fraktionen, dass mit einem Gedenkprojekt an den Tod des jungen Soldaten erinnert werden soll. »Ich bin als Kind in Rosdorf aufgewachsen und habe die damaligen Ereignisse als 11-Jährige mitbekommen«, erzählt die bis heute in dem Ort lebende Theater- und Filmregisseurin Julia Roesler. »Der Mord an Alex hat mich und meine Familie stark aufgewühlt und das Leben danach verändert.« Leider sei die Tat im Ort über Jahrzehnte nie öffentlich als gemeinsame Erfahrung reflektiert und diskutiert worden.

Umso mehr freue sie sich, so Roesler, »dass nun an Formen des Gedenkens gearbeitet wird, die diesem Bedürfnis Raum geben und hoffentlich eine intensive Aufarbeitung und Erinnerung anstoßen. Auch und vor allem, damit so etwas nie wieder passiert.«

»Alle im Gemeinderat vertretenen Parteien und Gruppen haben nicht nur den Beschluss unterstützt, dass es eine Form des Gedenkens geben soll«, betont Ortsbürgermeister Bernd Schütze (SPD). »Alle Fraktionen arbeiten auch aktiv mit in der Arbeitsgruppe, die das Projekt trägt. Das finde ich bemerkenswert.«

Die Arbeitsgruppe entwickelte inzwischen erste Ideen. Unter anderem sind eine Stationen-Wanderung durch das Dorf und eine Homepage geplant. Auch Studierende des Masterstudiengangs Mediendesign der Hochschule Ostfalia in Salzgitter sind zur Mitarbeit an der Webseite eingeladen worden. »Sie bekommen Kontakte zu Zeitzeug*innen und erarbeiten auf dieser Basis eigene Ideen für einen Erinnerungsort im Internet«, berichtet Projektleiter Karsten Knigge. »Zudem sollen sie und andere Projektbeteiligte Interviews führen und Ortsbegehungen machen.«

Zur Vermittlung der damaligen Geschehnisse und ihrer Auswirkungen auf das Leben in Rosdorf solle auch eine später frei zugängliche Projektdokumentation gehören, mit der überregional ähnliche Gedenkprojekte angeregt und erleichtert werden sollen, so Knigge. »Die erschütternde Zahl von fast 200 durch Rechtsextremist*innen getöteten Menschen seit 1990 in Deutschland zeigt, wie wichtig es ist, klare Signale der Ablehnung von rassistischem und nazistischem Gedankengut in die Gesellschaft zu senden«, betont er.

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