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Hoffnung auf Veränderung: Hundert Berliner fürs Klima

Der Klima-Bürger*innenrat nimmt seine Arbeit auf. Die Stärke der zufällig ausgelosten Mitglieder sei, dass viele verschiedene Perspektiven vertreten sind

Klimasenatorin Bettina Jarasch (Grüne) verspricht den Mitgliedern des Klima-Bürger*innenrats, ihre Empfehlungen sehr ernst zu nehmen.
Klimasenatorin Bettina Jarasch (Grüne) verspricht den Mitgliedern des Klima-Bürger*innenrats, ihre Empfehlungen sehr ernst zu nehmen.

Als sie den Brief bekommen habe, in dem stand, sie sei eine von 2800 zufällig ausgelosten Berliner*innen, die sich überlegen dürfen, ob sie Mitglied des Klima-Bürger*innenrats werden wollen, habe Sylvia Poeting ihn zunächst weggelegt. »Weil ich erst mal skeptisch bin, wenn es um Institutionen geht«, erzählt die 50-jährige Reinickendorferin vor Beginn der Auftaktsitzung des von der Senatsumweltverwaltung einberufenen Bürger*innenrats am Dienstagabend im Umweltforum in Friedrichshain. Doch ihr Mann habe sie überzeugt, es sich anders zu überlegen. Und dann sei sie in ihrem Alltag doch auf auf viele Dinge gestoßen, die sich ändern sollten: unnötige Plastikverpackungen, Müll oder unbrauchbare Fahrradwege.

Nun ist sie eine von 100 Mitgliedern des Bürger*innenrats, die per Zufallsalgorithmus so ausgewählt wurden, dass sie möglichst genau die Berliner Gesellschaft repräsentieren, nach Kriterien wie Alter, Geschlecht, Bildungsabschluss und Migrationserfahrung. In den kommenden zwei Monaten sollen sie in insgesamt neun Sitzungen Empfehlungen für Klimaschutzmaßnahmen in der Hauptstadt erarbeiten.

Gerhard Guhle, ein weiteres Mitglied des Bürger*innenrats, ist dabei der Verkehrssektor besonders wichtig. »Beim ÖPNV-Ausbau muss viel passieren und dabei dürfen die alten Leute nicht vergessen werden.« Er ist selbst 78 Jahre alt und traue sich im Berliner Verkehr nicht mit dem Fahrrad zu fahren. Er würde gerne kostenfreie Verkehrsmittel anregen. Zur Teilnahme motiviert habe ihn aber auch die Zukunft der jungen Generation. »Ich bin vor 31 Jahren Opa geworden, jetzt habe ich schon zwei Urenkel. Was haben die zu erwarten?« Noch habe er die Hoffnung, »dass man irgendwas ändern kann, aber so großer Optimist bin ich nicht mehr«, sagt er. Die Politik lasse sich seiner Ansicht nach zu sehr von der Wirtschaft treiben.

Visionär bis pessimistisch

Vanessa Cann, mit 29 Jahren eine der jüngeren Teilnehmer*innen, sieht ebenfalls den Verkehr als eine der wichtigsten Baustellen der Hauptstadt. »Als Radfahrerin bin ich schon oft knapp am Tod vorbeigeschreddert«, berichtet sie. Julius Büxler, ebenfalls 29, will vor allem die Industrie in die Pflicht nehmen, die für einen Großteil der Treibhausgasemissionen verantwortlich ist, in Berlin zum Beispiel der Energiekonzern Vattenfall. »Ein bisschen visionär muss man da rangehen«, findet er. Und hofft auf einen »kreativen Austausch« im Bürger*innenrat.

Letztlich kann der aber nur Empfehlungen erarbeiten, über deren Umsetzung am Ende Senat und Abgeordnetenhaus entscheiden. Ob die Politik den Empfehlungen folgen wird, da ist eine Teilnehmerin »sehr pessimistisch«, ein anderer »skeptisch«. Vanessa Cann glaubt, das hänge auch vom Bürger*innenrat selbst ab: »Je konkreter wir werden, desto mehr Druck können wir erzeugen«, sagt sie.

»Wir werden die Ergebnisse sehr ernst nehmen, denn alles andere ist Verarschung«, beteuert Klima- und Mobilitätssenatorin Bettina Jarasch (Grüne) in ihrem Grußwort zu Beginn der Auftaktsitzung. Versprechen könne sie natürlich nicht, dass alle Empfehlungen übernommen werden, schränkt sie ein, »aber wenn nicht, dann werden wir das gut begründen müssen«.

Viele Perspektiven im Bürger*innenrat

Klimaschutz sei »die drängendste Aufgabe, die wir haben«, betont Jarasch und verweist auf Starkregenereignisse, Hitzesommer, den sinkenden Grundwasserspiegel und die durch den Ukraine-Krieg gestiegenen Energiekosten. Sie würde gerne so schnell wie möglich Klimaneutralität erreichen, »aber das wird am Ende nur gemeinsam gehen«. Deshalb sei sie gespannt auf die Ideen des Bürger*innenrats und auch froh über Mitglieder, die verschiedene Maßnahmen vielleicht zu hart finden. Der Rat könne Politiker*innen zur Diskussion einladen. »Wenn sie Lust darauf haben, ich bin sofort da. Wenn nicht – das ist ihr Gremium«, so die Klimasenatorin.

Im Anschluss gibt Fritz Reusswig, Soziologe am Potsdamer Institut für Klimafolgenforschung, einen Input zum Thema Klimakrise: Schon jetzt habe sich die Erde um ein Grad erwärmt und in Berlin gebe es 1400 Hitzetote im Jahr. Die Treibhausgasemissionen müssten auf die der Mitte des 19. Jahrhunderts reduziert werden. »Das ist nicht unmöglich. Aber die zentrale Frage ist: Welche Politik brauchen wir und wie geht das sozial gerecht?«, erklärt er.

Solche Entscheidungen träfen Bürger*innenräte »besser und nachhaltiger, weil mehr Perspektiven zusammenkommen«, sagt Oliver Wiedmann vom Verein Mehr Demokratie. Rusalka Galinat von der Initiative Klimaneustart Berlin, die den Klima-Bürger*innenrat durchgesetzt hat, ergänzt, es sei »so schön zu sehen, dass es wahr geworden ist«. Nächste Woche geht es richtig los mit der Arbeit der 100 Bürger*innen – bis am 30. Juni ihre Empfehlungen an die Senatsumweltverwaltung übergeben werden.

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