Wie Pandemie und Krieg unser Trieb- und Nachtleben beeinflussen

Die Pandemie und der Krieg hinterlassen Spuren: Das lässt sich auch an unserem Sexualverhalten und Drogenkonsum ablesen.

  • Yulia Myshka
  • Lesedauer: 5 Min.

Als ob wir aus einem langen, friedlichen Schlaf gerissen würden – so fühlten sich die letzten zwei Jahre an. Selig sammelte sich die Spucke in unseren naiven Mündern angesichts einer rosigen, zuverlässigen Zukunft, die nicht viel Neues zu bergen schien. Aus unseren sorgenlosen Träumen wurden wir jäh geweckt – erst mit einer für die heutige medizinische Entwicklung unvorstellbaren Pandemie, dann mit einem für die derzeitigen moralischen Anschauungen noch unvorstellbareren Angriffskrieg. Wie fragil sich unsere demokratischen Strukturen angesichts unzufriedener Massen von Wissenschaftsleugner*innen erwiesen haben, wie brutal der Feldzug eines Diktators den westlichen Fortschrittsglauben gebrochen hat – das mögen im Rückblick Historiker*innen beurteilen. Was mir dagegen als keinesfalls objektiver Beobachterin mitten in dieser Zeit der Unruhe und des Wandels ins Auge fällt, lässt sich weder quantitativ auswerten noch durch statistische Datenerhebungen beweisen. Deshalb kann es gut sein, dass bei all der Bewegung und Veränderung von heute keines meiner hier geschriebenen Worte morgen noch stimmt.

Während wirtschaftliche und politische Effekte reichlich ausgeleuchtet werden, entzieht sich eine Kategorie jeder Analyse: Unsere Triebe, das heißt hier: unser Begehren nach Sex und Rausch. Dabei zeigt sich in unserem Sexualverhalten und Drogenkonsum mehr als in allen anderen Lebensbereichen, wie sich die unbewussten Einstellungen der Menschen in diesen aufwühlenden Zeiten verändern. Und wo würde man die aufrüttelnden, entzaubernden und beängstigenden seelischen Auswirkungen von Pandemie und Krieg – auf die deutsche Gesellschaft, wohlgemerkt – deutlicher zu spüren bekommen als an denjenigen Orten, deren Grundprinzipien gerade aus Träumereien, Verzauberung und Sorglosigkeit bestehen? Ich spreche hier von zwei Berliner Nachtklubs, die mit genau diesen Verheißungen weltweit namhafte Institutionen der elektronischen Musikszene geworden sind: der KitKatClub und das sagenumwobene Berghain. Beide gehören nach und vor der Pandemiepause zu meinem wöchentlichen Repertoire, und beide haben – ohne willentliche Programmänderung – seitdem große Veränderungen hingelegt. Dass einschneidende Ereignisse psychische Spuren hinterlassen, dürfte ein Allgemeinplatz sein. Aber sind sie gerade an der Atmosphäre solcher ohnehin exzentrischer Räume abzulesen?

Lust und Laune

Knick knack. »Lust und Laune« ist dein Beglückungsprogramm rund ums Thema Sex. Dabei sprechen wir alle zwei Wochen über consent, kinky Sex und Dinge, die nicht nur zwischen den Laken passieren. Wir nehmen unterschiedliche Perspektiven ein, tauchen in die Tiefe des Begehrens ein und berichten für euch darüber - links und einfach befriedigend. Alle Texte unter dasnd.de/lustundlaune

Selbstverständlich betrifft meine These nur einen bestimmten Personenkreis, der für das Ganze der Gesellschaft alles andere als repräsentativ ist. Doch welches Bild diese zahlenmäßig begrenzte Gruppe abgibt, zeigt besonders klar verschiedene Extrema von Verhaltensweisen auf. Denn die Natur der im Kitty oder Berghain gesetzten Rahmenbedingungen erfordert geradezu Unvernunft, Gedankenlosigkeit und Irrationalität. All dies sind Charakteristika, die in den letzten zwei Jahren besonders in Mitleidenschaft gezogen wurden. Auf die Wiedereröffnung der Berliner Klubs wurde mit Vorfreude hingefiebert. Als es nach mehreren Anläufen geschah, wirkte die Wiederbelebung der Tanzkultur jedoch beinahe deplatziert: Noch vergangenen Herbst galt eine diffuse Maskenpflicht an den Bars, für das Berghain benötigte man einen individuellen »Pass« zur Nachverfolgung von Infektionsketten. Und nach wenigen halb-ausgelassenen Wochenenden setzte die – wievielte? – Coronawelle ein.

Diesen Frühling gab es für die ersten Klubnächte keinen minderen Ansturm; aber das bedrückende Wissen, dass in ein und demselben Moment, wo wir auf der Toilette unser Ketamin zwischen Karten und Handys mörsern, ukrainische Krankenhäuser, Schulen und Theater von der russischen Armee bombardiert wurden, trübte die scheu aufkommende Feierlaune. Dieser eklatante Widerspruch zwischen der Welt außerhalb und der innerhalb der Klubtüren vermittelte ein nagendes Schuldgefühl, wenn nicht sogar ein Gefühl der Lüge und des Betrugs: Stärker denn je wurde klar, wie fern von der kalten, grausamen Wirklichkeit diese drogendurchtränkte und sexgeladene Welt auf der Tanzfläche und in den Darkrooms war. Die eigene Freude erschien nicht nur unangemessen angesichts des Leids draußen; sie schien auch unecht und trügerisch.

Gerade dieser letzte Punkt verletzt eines der zentralen Prinzipien der Berliner Technoszene. Für einen Tag oder eine Nacht, manchmal auch für mehrere, sollen Rausch und Ekstase zur anderen »Wirklichkeit« werden. Spätestens am Montagmittag nach dem Closing findet sie natürlich ihr Ende; aber bis dahin soll kein Gedanke an ihre Unnatürlichkeit, ihren chemisch verblendeten Charakter verschwendet sein. Dass sich diese andere »Wirklichkeit« auf so schmerzliche und nunmehr offensichtliche Weise von der Wirklichkeit draußen entfremdet hat, stellt die scheinhafte Authentizität, mit der sie vor einigen Jahren noch fröhlich erlebt werden konnte, in Frage. Diese Zweifel wirken sich vor allem auf den Drogenkonsum, in seiner Intensität und Verabreichungsform, aus. Die Jahre der Pandemie wurden von vielen dazu genutzt, ohne Klub-Situation als Rechtfertigungsgrundlage so manche Drogenabhängigkeiten zu identifizieren und bestenfalls therapeutisch zu behandeln. Außerdem hat sich das Bewusstsein, ständig dem Risiko einer Infektion ausgesetzt zu sein, tief in unsere Seelen eingeschrieben. Gerade bei den »Alten Hasen« – vielleicht nicht so sehr bei der neuen 2000er-Generation, die erst jetzt ausgehungert und ausbruchartig auf ihre ersten ekstatischen Entfesselungen losstürzt – konnte ich deshalb einerseits einen verhältnismäßigen Rückgang in der Menge und Art der Drogeneinnahmen beobachten, andererseits ein leises Misstrauen gegenüber neuen Begegnungen, die früher gedankenlos in jeder Klokabine willkommen geheißen wurden. Die grenzenlosen Ausschweifungen nehmen ab, die Wachheit und Wachsamkeit nehmen zu – bezeichnenderweise gerade bei denjenigen Gästen, die nostalgisch auf die »guten alten« Zeiten vor der Pandemie und vor dem Krieg zurückblicken, in der mehr »Stammis« als »Touris« unterwegs waren und nicht gefühlt ein Drittel aller Klubbekanntschaften von damals in geradliniger Fortführung ihrer »gesellschaftlichen Exzentrik« zusätzlich zu Kinky-Partys nun auch Querdenkenden-Demos frequentieren.

Ja, vieles ist in diesen Jahren – Jahre der Ausnüchterung, der unbehaglichen Realisierung und des verstörenden Aufwachens – ans Licht gekommen, was man lieber nicht wahrgenommen hätte. Ich fühle mich zu jung, um es sagen zu dürfen, aber: Es wird nie wieder so sein wie früher. Und vielleicht ist das auch gut so.

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