Die ganze Palette der Ausbeutung

Geflüchtete aus der Ukraine laufen Gefahr, sich in rechtswidrigen Arbeitsverhältnissen wiederzufinden

Arbeit nur gegen Abgabe des Passes, Zwang in die Scheinselbstständigkeit, Schuften ohne offiziellen Vertrag: Immer wieder werden Geflüchtete, die vor dem Krieg in der Ukraine in die deutsche Hauptstadt geflohen sind, mit unseriösen und erpresserischen Arbeitsangeboten konfrontiert. Und immer wieder fallen die verunsicherten Menschen auf diese herein.

»Das ist die Spitze des Eisberges, die wir hier sehen können«, sagt Linke-Politikerin Katja Kipping auf einer Pressekonferenz am Mittwoch. Die Sozialsenatorin sieht ukrainische Geflüchtete als ideales Ziel für die »gesamte Palette an Ausbeutung, die man sich nur vorstellen kann«. Denn neben Unternehmen, die sich erfreulicherweise für die Geflüchteten einsetzten und anständige Arbeit böten, gebe es auch solche, die die vulnerable Lage der Menschen ausnutzen. »Wir wollen, dass die Menschen in eine Rechtsposition kommen«, sagt Kipping. Es gehe darum, die Ukrainerinnen und Ukrainer gegen unseriöse Arbeitsangebote immun zu machen.

»Schon Europol hat vor den Gefahren von Menschenhandel und Arbeitsausbeutung gewarnt. Auch der Zoll ist sehr aufmerksam«, sagt Philipp Schwertmann, Fachbereichsleiter des Berliner Beratungszentrums für Migration und Gute Arbeit (Bema). Seine Behörde hat sich zum Ziel gesetzt, Ukrainerinnen und Ukrainer zu beraten und über ihre Rechte am deutschen Arbeitsmarkt zu informieren. Hierfür bietet das Bema Beratungen und Schulungen zum deutschen Arbeitsrecht an, verteilt Flyer und Broschüren. Nun soll damit begonnen werden, die Menschen vor Ort, etwa in den Unterkünften, aufzusuchen.

Im Vergleich zu den Geflüchteten aus Syrien und Afghanistan, die 2015 in Berlin ankamen, befinden sich die Ukrainerinnen und Ukrainer laut Schwertmann in einer besseren Lage. »Da war es so, dass die Geflüchteten, die damals ins Land kamen, erst mal ins Asylverfahren gegangen sind und oft sehr, sehr lange warten mussten, bis sie die Möglichkeit hatten, hier zu arbeiten«, sagt er. Viele Menschen hätten jedoch trotzdem arbeiten wollen oder sogar müssen, was zu etlichen illegalen Arbeitsverhältnissen geführt habe. Die damaligen Voraussetzungen seien einem »Einfallstor für Ausbeutung« gleichgekommen.

»Jetzt ist die Situation grundsätzlich anders«, sagt Schwertmann. Den ukrainischen Geflüchteten werde glücklicherweise ermöglicht, sofort zu arbeiten – »eine ganz großartige Sache«. Trotzdem müsse anerkannt werden, dass auch bei ukrainischen Geflüchteten Verletzbarkeiten bestünden, so Schwertmann. »Das ist eine Gruppe, die hierherkommt in einer Situation, die sie nicht selber bestimmt hat.« Die Menschen seien traumatisiert, kennen weder die deutsche Sprache noch die Systeme, nach denen die Gesellschaft funktioniert.

Eine konkrete Fallzahl ausbeuterischer Arbeitsverhältnisse kann laut Schwertmann nicht genannt werden, die Dunkelziffer sei naturgemäß hoch. Doch: »Wir erfahren relativ gut, was es auf dem Arbeitsmarkt für Umgehungstatbestände gibt.« In seinen Annahmen stützt sich das Bema vor allem auf Erfahrungsberichte, mit denen Geflüchtete zum Zentrum kommen. So hätte sich laut der Behörde ein Ukrainer gemeldet, um sich zu erkundigen, ob er mit einem lettischen Arbeitsvertrag in Deutschland arbeiten dürfe. Die Bema sieht hierin eine bekannte Strategie eines Arbeitgebers, die im deutschen Recht vorgeschriebenen Arbeitsbedingungen zu umgehen.

»Es ist klar, dass es sich dabei nicht um Einzelfälle handelt«, sagt Schwertmann, der ein weiteres prominentes Beispiel nennt: Auch der Fleischproduzent Tönnies habe an der polnisch-ukrainischen Grenze versucht, die Verwundbarkeit der Menschen auszunutzen und in Auffanglagern Beschäftigte anzuwerben. »Da muss man einfach wachsam werden«, sagt er.

Die meisten Fälle ausgebeuteter Ukrainerinnen und Ukrainer finden sich laut Bema in Sektoren, die bereits für ihren Ruf als Hort unseriöser Arbeitsverhältnisse bekannt seien. So etwa in der Reinigungsbranche, im Bauwesen oder bei subunternehmerischen Paketzustellern. Besonders in diesen Bereichen seien unseriöse Stellenanzeigen im Internet aufgetaucht, für die die Behörde ukrainische Geflüchtete künftig sensibilisieren will.

Bei der Suche nach Arbeit in Berlin stellt sich für viele Ukrainerinnen und Ukrainer allerdings nach wie vor das Problem der Berufsanerkennung. Diese dauert laut Bema zwischen drei und vier Monaten – wichtige Zeit, die den Menschen verloren gehe. Zudem gestalte sich das Verfahren oftmals kompliziert und unflexibel.

»Das Thema Anerkennung der Berufsabschlüsse war mir gleich in den ersten Wochen klar«, sagt dazu Katja Kipping. Während bei unregulierten Berufen, wie etwa in der Krankenpflege, eine Selbsteinschätzung genüge, brauche es bei regulierten Berufen, wie etwa als Herzchirurg, eine offizielle Anerkennung. Um Staus an den Anerkennungsstellen zu vermeiden, sei der Weg über die Bildungsministerkonferenzen unausweichlich, so Kipping. »Das ist eine Sache, die man als Land Berlin nicht alleine stemmen kann.«

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