Immer diese Widersprüche

Die Coronakrise führte zu großen Verwerfungen in der Linken. Befürworter und Gegner drastischer Maßnahmen erschöpften sich in gegenseitigen Schuldzuweisungen. Dass es so weit kommen musste, ist auch ein Versagen der Ideologiekritik

  • Felix Klopotek
  • Lesedauer: 7 Min.
Appell statt Argument: Auch manch linker Diskussion über den richtigen Umgang mit der Pandemie fehlte es an inhaltlicher Substanz.
Appell statt Argument: Auch manch linker Diskussion über den richtigen Umgang mit der Pandemie fehlte es an inhaltlicher Substanz.

Wie viel sagt ein Widerspruch aus? Was folgt aus ihm? In der Kontroverse, wie sich die Linke zur Coronakrise verhalten hat – und weiter verhalten soll –, sind Kritiker auf einen solchen gestoßen: Bekanntlich haben viele Linke die Lockdown-Maßnahmen der Regierung dafür kritisiert, dass sie zu lasch gewesen wären, zu zögerlich, verspätet implementiert. Dafür stützten sie sich auf die Expertise bestimmter Wissenschaftler – allen voran Christian Drosten – und beeilten sich, die Expertise anderer Wissenschaftler herabzuwürdigen – hier war der bekannteste Hendrik Streeck, der ins Zwielicht geriet, das Virus zu verharmlosen. Beide Wissenschaftler sind übrigens regierungsnah und sich in vielen Fragen einig – das nur nebenbei.

Die Linken, die sich für Drosten und gegen Streeck ausgesprochen haben, kamen überwiegend aus einem grün-linken, akademisch geprägten Milieu, das gendersensibel ist, antirassistisch und Ausbeutung unter dem Label »Klassismus«, als diskriminierendes Verhalten gegenüber Arbeitern, verhandelt. Ein Milieu, das dezidiert antinaturalistisch, sprachkritisch, diskursanalytisch und konstruktivistisch ist. Und dann das: Dieses Milieu schloss sich ganz überwiegend einer wissenschaftlichen Haltung und einer Sichtweise auf das Virus an und bestritt in heftigen Polemiken anderen Standpunkten ihre Legitimität.

Was für ein Widerspruch, frohlockte die andere Seite! Denn in der Coronakrise gerierte sich dieses grün-linke Milieu offensichtlich nicht antinaturalistisch und konstruktivistisch, sondern dogmatisch, und die unkritische Haltung gegenüber Drosten und Lauterbach war nun alles andere als diskursanalytisch. Auf Twitter und anderen Netzwerken ging es hoch her, letztlich warfen sich beide Seite herrschaftskonformes, regressives und autoritäres Verhalten vor. Wirklich aufgelöst wurde der Widerspruch allerdings nicht. Das Ergebnis wäre nämlich für beide Seiten nicht sehr schmeichelhaft ausgefallen.

Alles dreht sich um das Ich

Den Widerspruch aufzulösen hätte bedeutet, sich zu fragen, wofür die antinaturalistische, konstruktivistische Haltung eigentlich steht. Konservative und Reaktionäre sehen sie als Ausdruck eines hemmungslosen, alle Werte untergrabenden Relativismus und Skeptizismus. Die Urangst der Mächtigen und Privilegierten vor der zersetzenden Aufklärung hallt hier nach. So skeptisch ist diese Haltung aber gar nicht, ganz im Gegenteil. Es geht ihr darum, eine verletzliche, verletzbare Subjektivität zu schützen, ein Ich, das nicht weiter hinterfragt wird und letztendlich nicht als ein Gewordenes und Werdendes verstanden wird: Es ist immer schon mit sich identisch. Alles, was dieses Ich zu relativieren droht, kann nur ein Ausdruck von Herrschaft, von auferlegter Beschränkung, Knechtung und Diskriminierung sein. Im Gegenzug geht es darum, alles, was dieses Ich einschränkt, zurückzuweisen – gerne auch kategorisch ohne jede weitere Diskussion. Diese Bedrohung können dominante Sprachregelungen sein, die – scheinbar oder tatsächlich – Andere ausschließende Implikationen aufweisen. Diese Bedrohung kann aber auch ein Virus sein, dessen negative gesundheitliche Auswirkungen man maximal dystopisch einschätzt.

Aber auch die andere Seite, die sich eben noch daran delektierte, wie sich »Wokies« im Widerspruch von Antinaturalismus und Dogmatismus verstricken, setzt dieses unumschränkte, selbstherrliche, von dunklen Mächten aber permanent bedrohte Ich voraus. Daher ihr dröhnender Freiheits- und Grundrechtepathos. Dieses Pathos bezieht sich auf die narzisstische Kränkung, die man höchstpersönlich durch Staatseingriffe zu erfahren glaubte. Beide Seiten treffen sich in einer Mystifizierung des (eigenen) Egos, das nicht weiter sozial hinterfragt wird, als stabil gesetzt wird und streng genommen geschichtslos konzipiert ist. Selbstbeschränkung gilt ihnen ausschließlich als Zumutung, durchgeführt als staatlicher Zwangsakt oder dirigiert von einer Verschwörung alter, weißer Männer.

Ideologiekritik am Limit?

Die Coronakrise hat vorgeführt, wie stumpf konventionelles ideologiekritisches Besteck ist. Das Aufdecken von Widersprüchen in Argumentationen, um ein falsches Bewusstsein zu entlarven, und eine relativierende, skeptische Haltung, um Verhältnisse, die sich den Anschein geben, unumstößlich zu sein, zumindest gedanklich zu unterminieren: Sie reichen offensichtlich nicht aus, um die Krise zu begreifen. Anders gesagt: Die Ideologiekritik war nicht vollständig. Was hätte sie vollständig gemacht? Ein Reflektieren darauf, was ihre Voraussetzungen sind.

In dem oben geschilderten Fall fußt die Ideologiekritik, die beide Seiten für sich in Anspruch nehmen, auf der Annahme eines Ichs, das es unbedingt gegen die Zumutungen der verkehrt eingerichteten Welt zu schützen gilt. Eine legitime Anstrengung, die aber – un- oder halbbewusst vollzogen – zuverlässig das konformistische Ich reproduziert, das uns als kleinbürgerlich-ökonomisches entgegentritt: konsumorientiert, Sorge nur als Sorge um sich selbst kennend, misstrauisch gegen alles Kollektive, Solidarität ausschließlich als gönnerisch und eigennützig verstehend.

Die Ideologiekritik während der Coronakrise hätte sich also selbst – spätestens als absehbar war, dass die Kritik sich in gegenseitigen Schuldzuweisungen erschöpft – hinterfragen müssen, um zu Ergebnissen zu kommen, mit denen man in emanzipatorischer Absicht hätte weiterarbeiten können. Was für Ergebnisse? Zum Beispiel, dass jede Bezugnahme auf persönliche Befindlichkeiten nur zu einer Überhöhung des individuellen Standpunktes führt, eine Überhöhung, die den Blick auf kollektive Prozesse verstellt. Die »Corona-Skeptiker« haben dadurch »verpasst«, dass es etwa in Italien zu Beginn der Krise zu massiven Protesten kam, weil Belegschaften nicht einsehen wollten, dass der Lockdown für alle Aspekte des öffentlichen wie privaten Lebens gilt – bloß nicht für die Arbeitswelt. Diese Streikaktionen waren ohne Zweifel legitim. Die »Lockdown-Befürworter« unter den Linken haben ihrerseits »verpasst«, in den ebenfalls in Italien – aber längst nicht nur dort – stattfindenden Arbeiterprotesten gegen Gesundheitspass und Impfpflicht mehr als nurbornierte und paranoid irregeleitete Manifestationen zu sehen.

Kampf gegen Abhängigkeiten

Der legendäre, hierzulande bezeichnenderweise unbekannte französische Kommunist Roger Dangeville (1925–2006) hatte in seiner Kritik an Thomas Malthus, dem ersten Theoretiker respektive Ideologen des Konsumindividualismus, festgehalten, dass der wichtigste Kampf der Arbeiterklasse vor der Revolution darin bestehe, nicht noch tiefer in den Sumpf der mannigfaltigen Abhängigkeiten von bürgerlicher Politik und Ideologie zu geraten. Gemünzt auf die Coronakrise hätte das bedeutet, den Kampf gegen Gesundheitsgefährdung am Arbeitsplatz und den miesen Wohnquartieren nicht getrennt vom Kampf gegen neue Formen der digitalen Kontrolle und Überwachung zu verstehen, die unter dem Deckmantel der Pandemiebekämpfung eingeführt wurden.

Leichter gesagt als getan. Denn wann sind eigentlich die Voraussetzungen einer Kritik von dieser so weit erfasst, dass sie sich nicht länger in ihren eigenen Widersprüchen verstrickt? Hat doch jede Voraussetzung ihrerseits Voraussetzungen, jeder Grund hat seinen Grund – und wenn wir nicht aufpassen, landen wir am Ende wieder beim lieben Gott als letzte Ursache, also beim Dogma. Wo den Schnitt setzen? In Günther Anders‹ »Die molussische Katakombe«, seinem großen, in den 1930ern entstandenen Werk über die Linke im Angesicht von Faschismus und Stalinismus, lässt er dieses Dilemma von zwei Gefangenen diskutieren. »Wenn ein Ziegel vom Dach fällt«, fragt der eine, »haben alle Dinge aller Zeiten ihn mit vom Dach geworfen. Wollen wir den Gründen nachlaufen?« »Es genügt die Gründe so weit zu kennen«, entgegnet der andere, »dass wir das Herabfallen des nächsten Steines unwahrscheinlich machen.«

Wer auf die nächstliegenden Gründe zurückgreift, akzeptiert nur die, die seine eigene Befindlichkeit bedienen. Das reicht nicht. Und die fernsten »liegen so fern, daß wir nicht hinreichen, und die Gelehrten sind stolz darauf. Die mittleren aber nennt man Verhältnisse«. Diese gilt es, um sie zu ändern, zunächst zu begreifen – und das ist im Gegensatz zu einer persönlich betroffenen wie zu einer in astronomische Weiten abschweifenden Haltung immer möglich: »Die Verhältnisse sind noch so nah, daß man sie ändern kann; aber man kann sie nicht schlagen im Wutausbruch oder mit der Hand. Sie sind schon so weit, daß man, um sie zu erreichen, die Technik der Verallgemeinerung braucht und die Unterdrückung der persönlichen Gereiztheit.«

In dem von Gerhard Hanloser, Peter Nowak
und Anne Seeck herausgegebenen Sammelband »Corona und linke Kritik(un)fähigkeit.
Kritisch-solidarische Perspektiven ›von unten‹ gegen die Alternativlosigkeit ›von oben‹« ist auch ein Beitrag von Felix Klopotek enthalten.

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