Selbst das einfachste Gerät fehlt

Windenergie soll boomen, doch die Industrie sorgt sich um die Basis für den Ausbau an Land und auf See

  • Hermannus Pfeiffer
  • Lesedauer: 4 Min.

Gunter Kegel, Präsident des Elektro- und Digitalindustrieverbands ZVEI, hat »richtig Bock« auf die Hannover-Messe. Schließlich spürt seine Branche auf der größten Industrieshow der Welt, die am Donnerstag zu Ende geht, scharfen Rückenwind. Zu Kegels Freude mag auch das »Riesen-Auftragsbuch« beigetragen haben, welches einen Großteil der Firmen auf Jahre hinaus auslasten dürfte. Trotz Corona, Krieg und Chip-Mangel erwartet die global ausgerichtete Schlüsselindustrie in diesem Jahr ein Umsatzplus von sieben Prozent.

Die von der Politik vorgegebene Dekarbonisierung der Wirtschaft benötigt zweierlei: Digitalisierung und Elektrifizierung. Beide Themen stehen auch in Hannover im Mittelpunkt. ZVEI-Präsident Kegel verspricht sich von dem Duo eine sogenannte Sektorenkoppelung – von der Rohstoffbeschaffung bis zum Stromzähler in der Wohnung soll es digital, vernetzt und effizient zugehen. Keine Gebrauchsanweisungen auf Papier mehr, Gleichstrom statt Wechselstrom und grüner Wasserstoff statt russischem Erdgas.

Für diese Transformation werden Unmengen an grüner Energie benötigt, vor allem Strom. Giles Dickson skizzierte das enorme Wachstumspotenzial der Erneuerbaren: »Heute macht Strom ein Viertel des europäischen Energiesystems aus. Bis 2050 werden es drei Viertel sein«, erwartet der Chef von Wind Europe, der in Brüssel ansässigen Branchenorganisation. 57 Prozent des gesamten Energieverbrauchs werden dann direkt elektrifiziert, 18 Prozent indirekt über grünen Wasserstoff. Bis 2050 wird die Hälfte des Stroms in der Europäischen Union aus Wind stammen. »Die Windenergie ist ideal positioniert, um diesen Prozess voranzutreiben«, so Dickson.

Dass der Weg dorthin steiniger sein könnte als Lobbyisten hoffen, zeigt das Beispiel Nordex. Der Hamburger Windkraftanlagen-Hersteller schließt seine Rotorblattproduktion in Rostock Ende Juni. Den etwa 500 Mitarbeitenden bleibt, eine Abfindung zu nehmen und in eine Transfergesellschaft einzutreten.

Nordex ist spezialisiert auf Onshore-Windanlagen. Fehlende Flächenausweisungen durch die Länder, Naturschutz und lokaler Widerstand erschweren das Geschäft an Land. Dennoch erwirtschafteten im vergangenen Jahr 8600 Beschäftigte einen Umsatz von 5,4 Milliarden Euro. Ende Februar hatte Nordex mitgeteilt, die Rotorblattproduktion nach Asien zu verlegen. Begründet wird der Schritt mit einem »herausfordernden Markt- und Wettbewerbsumfeld«, das eine »Anpassung der globalen Produktions- und Beschaffungsprozesse« erfordere. Neben Rostock wird auch ein Werk in Spanien geopfert.

Die Sorge geht nun in der Branche um, dass die Produktion wie ehedem die Photovoltaik aus der EU in Niedriglohnländer auswandert. Der Markt für Windräder ist ein globaler und der Preisdruck ist hoch. Daher denken Unternehmen über ihre Standorte nach. Durch Abwanderung der Produktion könnten Windenergieanlagen am Ende günstiger werden.

Für Unruhe sorgt zudem der deutsche Branchenführer Siemens Energy. Um endlich die Probleme der notorisch verlustreichen Windkraft-Tochtergesellschaft Gamesa in Spanien zu lösen, arbeitet der Vorstand an einer Komplettübernahme. In Cuxhaven an der Nordsee produziert Gamesa seit kurzem die weltweit größte Offshore-Turbine in Serie.

»Eine Energiewende ohne Wertschöpfung in Deutschland und kaum in der EU« mag sich der Leiter des IG-Metall-Bezirks Küste, Daniel Friedrich, lieber nicht vorstellen. Wie wolle man dann die Menschen vor Ort für die Transformation gewinnen? Die Politik müsse daher verbindliche industriepolitische Vorgaben für die heimische Wertschöpfung machen. Mit dem in der parlamentarischen Beratung befindlichen Windenergie-auf-See-Gesetz müsse eine »Offshore-Offensive« beginnen.

Kritiker warnen dagegen vor nationalem Protektionismus, der letztlich allen schade. Außerdem werde der Großteil der Wertschöpfung nicht in der Produktion, sondern als Dienstleistung vollbracht: bei der Installation der Anlagen, bei Service und Wartung. Und die könnten nicht abwandern.

Dafür bedarf es allerdings einer industriellen Basis. »Selbst das einfachste Gerät fehlt«, etwa für den Transport von Windradflügeln, worauf der Hauptgeschäftsführer des Verbandes für Schiffbau und Meerestechnik, Reinhard Lüken, hinweist. Zukünftig werde aber eine komplette Infrastruktur benötigt: Einrichter- und Kranschiffe, Plattformversorger und Kabelleger. Auch für den Rückbau alter Anlagen benötige man Spezialschiffe, maritimes Know-how und ausgebildete Seeleute.

Doch bislang tut sich wenig in den Auftragsbüchern der deutschen Werften und Zulieferindustrie. Zu ungewiss finden auch mögliche Investoren die politischen Rahmenbedingungen. Ähnlich wie die IG Metall fordert auch der VSM von der Politik eine Koppelung von staatlicher Förderung und Wertschöpfung innerhalb der EU. »Es kann doch nicht sein, dass wir den ganzen Mist aus Asien herschippern«, platzte Lüken pünktlich zur Hannover-Messe der ökologische Kragen.

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