Der Marxist der Feministen?

Leben, Werk und Rezeption von Friedrich Engels sind von zahlreichen Widersprüchen durchzogen. Das Buch »Naturphilosophie, Gesellschaftstheorie, Sozialismus« versucht, etwas Ordnung in die Rezeptionsgeschichte des Theoretikers zu bringen

  • Johannes Greß
  • Lesedauer: 6 Min.

Friedrich Engels, der nach eigenen Angaben hinter Karl Marx stets die »zweite Violine« spielte, ist ein tragischer Held. In einem Brief an den Politiker und Publizisten Franz Mehring prognostiziert er, zwar möge sein lebenslanger Freund und Genosse Marx derzeit der Prominentere von ihnen beiden sein – aber »die Geschichte wird das alles schließlich in Ordnung bringen«. Das Gegenteil trat ein. Nach Engels’ Tod 1895 sollte die Geschichte vieles schlimmer machen. Rezipiert wurde Engels, wenn überhaupt, bestenfalls als Gehilfe des großen Marx, schlechtestenfalls als Wegbereiter des Stalinismus, da er Marx’ große Lehre allzu grob vereinfachte.

Mitte April erschien der Sammelband »Naturphilosophie, Gesellschaftstheorie, Sozialismus. Zur Aktualität von Friedrich Engels« im Suhrkamp Verlag, herausgegeben von Smail Rapic (Professorin für Philosophie an der Bergischen Universität Wuppertal). 17 Autor*innen zeichnen darin ein Bild von Engels als originellen, eigenständigen Denker, ohne den »Marx« und Marxismus in dieser Form nicht möglich gewesen wären. Der Sammelband erzählt nicht nur viel über dessen Werk, sondern genauso viel über das Leben des 1820 in Barmen (heute Wuppertal) geborenen Sohnes eines strenggläubigen Unternehmers.

Dialektische Wendung in Manchester

Schon früh eckte der junge Engels mit seiner Faszination für Goethe und andere »Gotteslästerer« in seinem streng pietistischen Elternhaus an. Spätestens mit seinem Interesse für radikale, sozialistische Ideen wurde Engels im spießbürgerlichen Barmen zum missratenen Abkömmling der ansonsten so ehrenwerten Familie Engels. Nach einem Jahr Militärdienst in Berlin – welches Engels zu großen Teilen in Philosophie-Vorlesungen verbrachte – wurde er von seinem Vater, Friedrich Engels sen., nach Manchester quasi strafversetzt. Im Epizentrum der einsetzenden Industrialisierung sollte Engels eine kaufmännische Ausbildung in der familieneigenen Baumwollfabrik »Ermen & Engels« absolvieren – und, so die Hoffnung seines Vaters, etwas »Anständiges« aus seinem Leben machen. Eine erste, dialektische Wendung im Leben des jungen Engels.

Beeindruckt, ja schockiert von diesen Erlebnissen verfasste Engels als 24-Jähriger seine Schrift »Die Lage der arbeitenden Klasse in England. Nach eigner Anschauung und authentischen Quellen«. Sie gilt noch heute als Meisterwerk der Sozialreportage. Engels’ große Leistung war es, die bloße Moral- und Sozialkritik an den verheerenden Lebensumständen der Arbeiter*innen als Kapitalismuskritik zu formulieren. »Die Lage der arbeitenden Klasse in England«, so schlussfolgerte Engels aus seiner »eignen Anschauung«, ist keine Folge falscher Moral oder falscher Werte – sie ist Ergebnis einer Produktionsweise, in welcher die einen Produktionsmittel besitzen und den anderen nichts bleibt außer der Verkauf der eigenen Arbeitskraft.

Damit war Engels’ politisches und wissenschaftliches Programm im Endeffekt für die kommenden Jahrzehnte vorgezeichnet: weg von der Welt der Ideen, hin zum Materiellen! Nicht das Bewusstsein bestimme das Sein, sondern umgekehrt, das Sein das Bewusstsein, wird er Jahre später gemeinsam mit Marx in der »Deutschen Ideologie« schreiben. Ein Programm, dem sich Marx, der die Schrift des jungen Engels begeistert zur Kenntnis nahm, bald anschließen sollte.

Leben im Widerspruch

Die Dialektik Hegels zum historischen Materialismus umzumünzen, fußte zu großen Teilen auf Engels frühen intellektuellen Leistungen. Wobei er Hegels zentrale Kategorie des »Widerspruchs« wohl selbst am eigenen Leib spürte: Liiert mit der irischen Arbeiterin Mary Burns und schockiert über das sklavenähnliche Dasein der Arbeiter*innen verdiente er sein Geld ausgerechnet in einer der Fabriken, die diese Verhältnisse mitproduzierte – noch dazu die Fabrik seines Vaters! Das Verhältnis von Sein und Bewusstsein sollte Engels und Marx zeit ihres Lebens beschäftigen.

Was Rapics Sammelband lesenswert macht, ist, wie darin die Vielfältigkeit und Bandbreite eines Friedrich Engels und dessen intellektuellen Schaffens ausgebreitet wird. Die Autor*innen streichen immer wieder die intellektuelle Eigenständigkeit von Friedrich Engels heraus, welcher eine Theorie des Staates formulierte (Ana Maria Miranda Mora), sich ausführlich mit Naturfragen auseinandersetzte (Sean Sayers und Kaan Kangal) zum Nachdenken über Nationalismus und Internationalismus anregt (Michael Forman) und sich nicht zuletzt als Militärstratege einen Namen machte (Wolfgang Streeck). Andrea Maihofer, Peter Hudis und Regletto Aldrich Imbong betonen in ihren Beiträgen, was Engels uns auch heute (und in Zukunft) noch sagen kann, etwa über die gegenwärtige »Enteignung des Freiheitsbegriffs« oder postkapitalistische Gesellschaften.

Nicht zu verkennen ist dabei – und das liegt wohl in der Natur der Sache – der Versuch nahezu sämtlicher beitragender Autor*innen, mit Vorurteilen und Ungerechtigkeiten aufzuräumen, die Engels im Laufe seiner Rezeptionsgeschichte angetan wurden (und in Teilen auch heute noch angetan werden). Erschwert wird dieses Unterfangen freilich dadurch, dass Engels’ »Werk« oftmals nur fragmentarisch vorliegt: Es handelt sich um ein Sammelsurium an Versatzstücken aus journalistischen Artikeln, begonnenen, aber nie vollendeten Manuskripten, Notizen und Exzerpten, Briefen und regelmäßig aktualisierten Vorwörtern für die Publikationen von Marx.

Dass es verhältnismäßig wenige von Engels’ Manuskripten wirklich zur Buchform brachten, liegt auch daran, dass »der Mann, der den Marxismus erfand«, wie Tristram Hunts Engels-Biografie untertitelt ist, einen Großteil seiner Zeit in den Dienst von Karl Marx stellte. Einerseits, indem er ihn und dessen Familie jahrelang finanziell unterstützte, andererseits indem er sich der Verwaltung des üppigen Nachlasses von Marx annahm und unter anderem den zweiten und dritten Band des »Kapitals« herausgab.

»Die weltgeschichtliche Niederlage des weiblichen Geschlechts«

Zeit für eigene Publikationen blieb dennoch. Vor allem hat sich Engels der Geschlechterfrage zugewandt, die bei Marx gänzlich und bei Marxist*innen lange Zeit außen vor blieb. »Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats« ist (auch in diesem Band) eines der meistdiskutiertesten Bücher von Engels. Vertraut mit dem damaligen Status quo naturwissenschaftlicher Forschung betrachtet er darin die familiären (Sexual-)Beziehungen verschiedener Epochen und Gesellschaften, mit Bezug auf die jeweilige Produktionsweise und kulturelle »Entwicklungsstufe«.

Was das Buch zu einem (umstrittenen) Klassiker marxistischer Gendertheorie macht, ist, dass Engels darin den Zusammenhang von kapitalistischer Produktion bzw. einer männlichen Eigentumsordnung und der Unterdrückung der Frau durch den Mann explizit macht. Mit der Aufteilung von Arbeit in bezahlte Lohnarbeit und unbezahlte Hausarbeit, so Engels, kam es zur »weltgeschichtlichen Niederlage des weiblichen Geschlechts«. Durchaus bemerkenswert schreibt Engels an späterer Stelle, der »erste Klassengegensatz, der in der Geschichte auftritt« sei der »Antagonismus von Mann und Weib in der Einzelehe, und die erste Klassenunterdrückung [die] des weiblichen Geschlechts durch das männliche«. Diese Erkenntnisse würdigend kritisiert Terrell Carver in seinem Beitrag, wie Engels dennoch in stereotypen Geschlechterbildern, insbesondere der Vorstellung vom »Mann als Mann« festhängt: »Sein Feminismus ist genau das, was man von einem Mann erwarten kann: voller Wissen über Frauen und beinahe absichtlicher Renitenz im Falle der Männer«. Carver konstatiert: »Engels ist der Marxist der Feministen; aber für sich allein betrachtet war er weder in seinen Argumenten noch in seinem Handeln ein Feminist«.

Und genau dieses Bild bleibt nach Lesen von »Naturphilosophie, Gesellschaftstheorie, Sozialismus« stehen: das von einer Person, deren Argumente und deren Handeln, deren Sein und Bewusstsein oftmals im Widerspruch zueinander standen. Am Ende bleibt ein äußerst lesenswerter Sammelband, der einen Einblick in Leben und Werk eines spannenden, vielseitigen Denkers liefert. Ein Sammelband, der die Geschichte vielleicht wieder ein bisschen »in Ordnung bringt«.

Smail Rapic (Hrsg.): »Naturphilosophie, Gesellschaftstheorie, Sozialismus. Zur Aktualität von Friedrich Engels«, Suhrkamp Verlag 2022, br., 24€.

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