Achtsame Ekstase

Vor zehn Jahren kümmerte sich erstmals ein Festival um Awareness – das Konzept kommt im Mainstream an, die Grundsätze bleiben gleich

  • Johanna Montanari und Nora Noll
  • Lesedauer: 6 Min.

Nackte Füße treten das Gras platt, stampfende Beine lassen zum Beat des DJs die Erde vibrieren. In der Nähe von Grünefeld im Havelland wird einmal im Jahr der Acker zum Dancefloor. Für viele Berliner*innen ist das Festival für elektronische Musik Nation of Gondwana in Brandenburg ein Pflichttermin, gerade diesen Sommer. Nach der pandemiebedingten Zwangspause können auch Massenveranstaltungen wieder in voller Größe stattfinden.

Was mit ausgelassenem Feiern leider einhergeht, ist sexualisierte Gewalt. »Awareness«, also Achtsamkeit und Bewusstsein, reagiert auf dieses Problem. Der Begriff wird für Unterstützungsstrukturen für Betroffene von sexualisierter Gewalt und Diskriminierung verwendet. Bereits vor zehn Jahren gab es auf dem Fusion Festival im mecklenburgischen Lärz die erste Crew, die mit diesem Konzept arbeitete, 2015 folgte die Nation of Gondwana.

Anita rief das Awareness-Team auf der Nation, wie das Festival verkürzt genannt wird, ins Leben. Die Mittvierzigerin erzählt, dass die Veranstalter*innen damals von sich aus Leute suchten und sie sich daraufhin mit anderen Interessierten zum Safer-Space-Kollektiv zusammentat. Seitdem ist die Gruppe fester Bestandteil der Nation, mit eigenem Zelt und mobilem Team. Auch dieses Jahr, vom 22. bis 24. Juli, wird Anita, wenn sie die grüne Weste als Erkennungszeichen trägt, nüchtern bleiben und in übergriffigen, diskriminierenden oder schlicht unangenehmen Situationen den Betroffenen zur Seite stehen. Dabei gibt es keine typischen Fälle, sagt Anita zu »nd«. Nur der Aufgabenbereich hätte sich in den vergangenen Jahren erweitert. »Als wir angefangen haben, lag der Fokus auf sexualisierten Übergriffen, inzwischen haben wir einen sehr weiten Grenzüberschreitungsbegriff, der eigentlich alle Formen von Diskriminierung einschließt.«

»In den letzten zehn Jahren hat sich viel getan«, sagt die Aktivistin Ann Wiesental. Sie organisiert am Samstag eine Veranstaltung im Berliner Club »Mensch Meier« zum zehnjährigen Jubiläum der Awareness-Arbeit auf Festivals. Das Konzept Awareness haben Wiesental und andere im Kontext politischer Kämpfe entwickelt und erst nach und nach bei Soli-Partys und weiteren Musik- und Kulturveranstaltungen angewandt. Wiesental hat 2007 bei den Protesten zum G8-Gipfel in Heiligendamm zum ersten Mal mit dem Begriff Awareness gearbeitet. Mit insgesamt 40 Personen organisierte sie bei den großen Protestcamps ein Rückzugszelt sowie ein Beratungszelt für Betroffene sexualisierter Gewalt. »Wir haben damals den Awareness-Begriff aufgenommen, weil es eine sehr internationale Mobilisierung war. Davor hieß das oft ›Ansprechstruktur‹ oder ›Ansprechgruppe‹«, sagt Wiesental zu »nd«.

Anita erinnert sich an die frühen 2000er Jahre – da kümmerten sich vor allem Frauen aus der linksradikalen Szene darum, dass auf Soli-Partys stets zwei nüchterne Personen ansprechbar blieben. »Die saßen dann an der Bar, während die anderen gefeiert haben. Das war alles ohne Konzept.« Von dem Awareness-Begriff hörte sie ebenfalls erst 2008, also nach den G8-Protesten. »Da bin ich hellhörig geworden.«

Das Konzept basiert auf der feministischen Haltung der Definitionsmacht. »Man geht davon aus, dass die Betroffene weiß, was sie erlebt hat, und sie die Diskriminierung oder die Gewalt benennen kann«, erklärt Wiesental. Die Unterstützenden streben keine Objektivität an, sondern stellen sich auf die Seite der Betroffenen. Dahinter stehe laut Wiesental die Erkenntnis, dass Betroffenen nicht automatisch geholfen wird, wenn Diskriminierung und Gewalt stattfinden. »Ohne explizite Strukturen verlassen sie oft eher Räume, als um Hilfe zu bitten.« Awareness-Strukturen sollen die Hürden, Hilfe in Anspruch zu nehmen, kleiner machen.

»Oft wollen Betroffene erst mal nur ein offenes Ohr und emotionale Anteilnahme«, so Wiesental. Wenn das der Wunsch der Betroffenen ist, sprechen Awareness-Crews manchmal aber auch die Person an, von der die Diskriminierung ausgegangen ist. So könne es auch darum gehen, dass diskriminierende Personen nicht mehr in der Nähe von Betroffenen zelten. »Es gibt aber auch Fälle von stärkerer Gewalt, wo die gewaltausübenden Personen Festivalverbot kriegen und in Zusammenarbeit mit der Security des Geländes verwiesen werden«, betont Wiesental.

Damit das alles funktioniert, müssten die Awareness-Strukturen sichtbar sein. »Dadurch, dass das Konzept jetzt bekannter ist und viele damit auch schon Erfahrungen gemacht haben, werden die Angebote stärker in Anspruch genommen«, beschreibt Wiesental den Erfolg des Konzepts.

Anita hat ebenfalls den Eindruck, dass die Stimmung auf der Nation seit der Arbeit von Safer Space aufmerksamer und sensibler geworden ist. »Auch die Besucher*innen werden awarer. Inzwischen haben wir nicht selten die Situation, dass Leute zu uns kommen und sagen: Schaut mal da, da ist was passiert!« Neben der akuten Unterstützung hält Anita diese langfristige Wirkung für essenziell. So werde Awareness-Arbeit schließlich zu einem präventiven Mittel. »Das Ziel ist es, alle, vom Gabelstaplerfahrer bis hin zum Besucher, zu sensibilieren. Da geht es nicht nur um Betreuung von Betroffenen, sondern: Wie kann man gewährleisten, dass das gar nicht mehr passiert?« Tatsächlich beobachtet sie im Vergleich zu den früheren Jahren einen Rückgang physischer Gewalt. »Wir merken, dass die Fälle von der Qualität und Heftigkeit weniger werden, aber die Anzahl bleibt gleich. Leider geht kein Festival ohne einen physischen Übergriff vonstatten.«

Auch wenn alle Menschen potenziell Opfer von sexualisierter Gewalt werden können, trifft es überproportional häufig FLINTA* (Frauen, Lesben, Inter-, nichtbinäre, Trans- und Agender-Personen). Öffentliche Aufmerksamkeit für das Thema sexualisierte Gewalt in diesen Zusammenhängen erregten mehrere Vorfälle auf dem Festival Monis Rache: Anfang 2020 wurde bekannt, dass ein Mitarbeiter 2016 und 2018 heimlich Kameras auf den Dixie-Toiletten installiert und die Aufnahmen, größtenteils von Frauen, auf Porno-Webseiten veröffentlicht hatte.

Ähnliche Fälle gab es auch beim Fusion-Festival, wo Filmaufnahmen in Duschen gemacht wurden. Diese neue Art der sexualisierten Gewalt, also Bildaufnahmen ohne Zustimmung, stellt Festivals vor neue Herausforderungen. Auch wenn es immer Vorfälle mit Spanner*innen gegeben habe, nun müsse sich auch ihr Kollektiv mit digitalem Spannen auseinandersetzen, sagt Anita. »Deshalb schauen wir jetzt regelmäßig nach Hidden Cams und machen das nach außen auch transparent. Man kann nicht so tun, als würde das nur auf einem Festival passieren.«

Dass es Awareness-Strukturen braucht, hat sich inzwischen herumgesprochen. Selbst Mainstream-Events wie Rock am Ring hätten nach einer Gruppe gesucht, so Anita. Gescheitert sei es letztlich am Geld. Denn auch wenn in der Vergangenheit Awareness-Arbeit als ehrenamtliches Extra abgetan worden sei, verlangen Kollektive wie Safer Space mittlerweile eine Bezahlung, erzählt Anita. »Die Zeiten, als es hieß: ›Mach doch mal Awareness, dafür kriegst du freien Eintritt und eine Getränkemarke‹, sind vorbei.«

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