Reisen statt Reden

Zwei, drei Dinge, die ich von dir weiß: »Amen« von Marcel Möring

  • Fokke Joel
  • Lesedauer: 4 Min.

Es sind die atemlosen Sätze, die einen sofort in den Roman »Amen« des niederländischen Autors Marcel Möring ziehen. Sie sind Ausdruck der Not des Erzählers Samuel Hagenau, der von seiner Frau Joyce verlassen wurde. Sie sei nicht glücklich, hat sie gesagt und ist gegangen. Ständig muss er an sie denken. Die Sehnsucht nach ihr droht ihn zu zerreißen. In seiner Verzweiflung beginnt er über sich und sie und über das, was zwischen ihnen war, nachzudenken.

Was weiß er über Joyce? Mehr als andere, denn schon nach dem dritten Treffen – da sie sind noch gar nicht richtig zusammen – erzählt sie ihm etwas, von dem sie sagt, dass er es ihren Freunden nicht weitererzählen soll. Es ist die Katastrophe ihrer Kindheit, der Vater, der von einem Tag auf dem anderen verschwindet und die Tochter mit der Mutter allein zurücklässt. Auch danach wird es nicht besser, der neue Mann der Mutter ist vom ersten Tag an streng, drangsaliert Joyce. Ihr Vater, sagt sie, sei für sie gestorben. Das gehe nicht, erwidert Hagenau. So etwas sage man, wenn das Gegenteil der Fall ist, wenn der Betreffende alles andere als tot ist, wenn der Betreffende schrecklich präsent ist, dass es eine solche Äußerung braucht, um die Fantasievorstellung vom Gegenteil aufrechtzuerhalten.

Andererseits weiß er nur wenig über sie. Obwohl er immer wieder fragt, hat sie außer dieser Kindheitskatastrophe nicht viel über sich erzählt. Sie wollte das nicht. Stattdessen ist sie gerne gereist, und weil sie es so gerne tat, ist Hagenau mitgereist, ihr zuliebe. Eigentlich wäre er lieber zu Hause geblieben, hätte lieber eine Reise zu ihr gemacht und vermutet, dass das ständige Reisen, »etwas zu erleben«, nur dazu diente, »nicht von dem eingeholt zu werden, was war«.

Aber auch Hagenau hat eine Vergangenheit. Als Archäologe nimmt er an einer Grabung auf dem Gelände eines ehemaligen Konzentrationslagers teil. Er, der Jude, dessen Großmutter in Sobibor umgebracht wurde. Dessen Mutter als Kind in Verstecken überlebte. Und der sie, die inzwischen alt und dement ist, im Pflegeheim nur selten besucht. In seiner Kindheit wären seine Eltern ihm gegenüber indifferent gewesen. So empfindet er es zumindest. Wie drei Fremde hätten sie nebeneinander her gelebt, »alles ordentlich, alles geregelt, Essen, Obdach, wie man Fisch isst und wann man was tragen darf«. Seine Eltern, die sich später trennten, hätten auch beliebige andere Menschen sein können. Aber Hagenau hat ein »starkes Bewusstsein von Ordnung und Chaos als einem Ganzen. Und auch: dass ich niemanden brauche, dass ich mit der Vergangenheit verbunden bin, dass sie meine Familie ist. Wäre ich für Mystisches empfänglich, würde ich es ›eins mit dem All‹ nennen oder ›die verborgene Harmonie des Kosmos‹«.

Samuel Hagenau ahnt, dass die Grundlage der Liebe zu Joyce das ist, was er beklagt: Sie nicht wirklich zu kennen. Denn es ist leicht, die eigenen Wünsche auf den anderen zu projizieren, wenn man wenig von ihm weiß. Marcel Möring erzählt von den Widersprüchen dieser Liebe zweier mental Beschädigter und damit von einem zentralen Problem unserer Zeit. Gleichzeitig berührt der Monolog des niederländischen Erzählers, der selbst Nachfahre von Holocaust-Überlebenden ist, viele uns heute beschäftigende Fragen: die nach dem Umgang mit der Vergangenheit, nach der Herkunft, nach dem Sinn politischen Engagements, nach dem Tod, ja, die nach dem Sinn des Lebens überhaupt. In einer Welt, in der ihm ständig der Boden unter den Füßen weggezogen wird, versucht Hagenau sich immer wieder neu zu orientieren.

Dass der Roman »Amen« heißt, sollte von der Lektüre nicht abschrecken. Zum einen ist es nur der Name eines Dorfes in der Nähe des Konzentrationslagers, in dem Hagenau an der Grabung teilnimmt – er weist auf den radikalen christlichen-calvinistischen Ursprung der Niederlande hin; zum anderen drückt sich im Titel die säkulare Religiösität Hagenaus aus, die sich in seiner Liebe zu Joyce und seinem Verhältnis zur Vergangenheit zeigt. Ansonsten ist Marcel Mörings Erzähler Agnostiker; einer, der weder die Existenz Gottes beweisen kann noch das Gegenteil, religiös wie politisch: »Ich habe keine Ahnung, ob es einen Gott gibt, ich weiß nicht, ob die Welt von irgendeinem System besser wird.«

Marcel Möring: Amen. Roman. Luchterhand Literaturverlag, 224 S., geb., 22 €.

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