Von der Wissenschaft zur Dystopie?

Seit einigen Jahren ist es innerhalb der linken Szene Mode, entgegen der marxistischen Tradition einen Kommunismus ohne Übergang zu propagieren.

  • Axel Berger
  • Lesedauer: 7 Min.

Mit Utopien taten sich die Theoretiker*innen des historischen Materialismus traditionell schwer. Schon Friedrich Engels hatte in seinem Aufsatz «Der Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft» – der Titel gab die Absage an das utopische Denken vor – alle idealistischen sozialistischen Strömungen samt ihrer «genialen Gedankenkeime und Gedanken, die unter der phantastischen Hülle hervorbrechen» einer vernichtenden Kritik unterzogen. Dagegen sei der «Verein freier Menschen» (Karl Marx) «nicht mehr als zufällige Entdeckung dieses oder jenes genialen Kopfs, sondern als das notwendige Erzeugnis des Kampfes zweier geschichtlich entstandener Klassen» zu begreifen; und die Aufgabe der Sozialisten sei es demzufolge nicht, «ein möglichst vollkommenes System der Gesellschaft zu verfertigen, sondern den geschichtlichen ökonomischen Verlauf zu untersuchen». Wenig mehr ließ sich «General» Engels in Bezug auf die Gesellschaft nach dem revolutionären Sieg des Proletariats über das Kapital und das private Eigentum an Produktionsmitteln entlocken, als dass «die planlose Produktion der kapitalistischen Gesellschaft der planmäßigen Produktion der hereinbrechenden sozialistischen Gesellschaft» werde weichen müssen.

Immerhin etwas konkreter wurde Engels› kongenialer Freund Karl Marx: In seinen «Randglossen zum Programm der deutschen Arbeiterpartei» (1891) entwickelte er einige Prinzipien für eine erste Phase einer kommunistischen Gesellschaftsordnung, die er streng materialistisch vor allem als Produktionsweise bestimmte. Dort erklärte er die Losung «Jeder nach seinen Fähigkeiten, jeder nach seinen Bedürfnissen!» zunächst zur fernen Zukunftsmusik und schlug für eine nachrevolutionäre, mit den «Muttermalen» des bürgerlichen Bewusstseins und einem Mangel an vielen Gütern geschlagenen Gesellschaft eine «Ökonomie der Zeit» vor. Ein Gedanke, den er auch in seinem Hauptwerk aufgriff: «Die Arbeitszeit würde also eine doppelte Rolle spielen», heißt es im «Kapital», und weiter: «Ihre gesellschaftlich planmäßige Verteilung regelt die richtige Proportion der verschiednen Arbeitsfunktionen zu den verschiednen Bedürfnissen. Andrerseits dient die Arbeitszeit zugleich als Maß des individuellen Anteils des Produzenten an der Gemeinarbeit und (nach Abzügen zur Versorgung Arbeitsunfähiger und eines Fonds für Investitionen und Infrastruktur, A.B.) daher auch an dem individuell verzehrbaren Teil des Gemeinprodukts.»

Konkrete Bewegung statt Utopie

Für lange Zeit stellte dieses Modell zweier Phasen einer sozialistischen Ökonomie, deren zweite noch weniger bestimmt war als die erste, den Orientierungspunkt für Marxist*innen dar, der sie auch von den zunehmend an Bedeutung verlierenden Anarchist*innen und ihrem politischen Voluntarismus unterschied. Mehr zu sagen, ließ die Erfahrung nicht zu, dass die Klassenkämpfe ihre eigene Dynamik entfalten würden und das «als herrschende Klasse organisierte Proletariat» auf historisch konkrete Herausforderungen auch konkrete Antworten würde finden müssen. Dies wird häufig als marxistisches «Bilderverbot» bezeichnet. Immerhin hatten die «Himmelsstürmer» (Marx) der Pariser Commune von 1871 den Alten aus Trier noch gelehrt, dass die «fertige Staatsmaschinerie» nicht einfach übernommen werden könne, sondern zu zerschlagen sei, um an ihre Stelle «nicht eine parlamentarische, sondern eine arbeitende Körperschaft» zu setzen, «vollziehend und gesetzgebend zu gleicher Zeit» – und unbedingt demokratisch aufgebaut. Eine Antizipation, die mit dem Auftreten der Räte in den Revolten und Revolutionen nach 1905 auch konkrete historische Form annahm, wie etwa Rosa Luxemburg, Leo Trotzki oder Anton Pannekoek früh bemerkten und sich nicht zuletzt in den russischen Revolutionen niederschlug.

Sowohl für Anhänger*innen wie auch Kritiker*innen der aus ihnen hervorgegangenen Sowjetunion stellte dieser Dreiklang aus gesellschaftlichem Eigentum an den Produktionsmitteln, Planwirtschaft und Rätemacht von nun an die Mindestbestimmung des Sozialismus dar. Während aber die einen den Stalinismus und die späteren staatssozialistischen Regimes als dessen bestmögliche historische Umsetzungen angesichts von wirtschaftlicher Unterentwicklung und feindlicher Einkreisung begriffen, erblickten die anderen mit deutlich geschärfterem Blick hier Konterrevolutionen, geprägt von bürokratischer «Entartung» (Leo Trotzki), Totalitarismus oder einer staatskapitalistischen, nachholenden Akkumulation samt terroristischer Unterwerfung der Arbeitenden – oder alles zugleich.

Kommunismus ohne Arbeiterbewegung?

Erst in den 1970er Jahren setzten sich winzige linke Gruppen von dem oben genannten, produktionsbezogenen Dreiklang ab. Inspiriert von der Entfremdungskritik von Gruppen wie «Socialisme ou Barbarie» oder dem im Mai 1968 zu kurzer Popularität gelangten Situationismus entstand vor allem in Frankreich um die Zeitschrift «Théorie Communiste» (TC) herum ein Milieu, das den direkten Übergang zum Kommunismus ohne den Umweg einer sozialistischen Übergangsgesellschaft propagierte. Es sollte jedoch bis in die 2000er Jahre dauern, dass dieser Ansatz, der bis heute unter der Selbstbezeichnung «Kommunisierung firmiert, etwas breiter rezipiert wurde. Hervorgerufen auch durch den kurzen Hype um das Buch »Der kommende Aufstand« der ursprünglich von TC inspirierten Gruppe »Unsichtbares Komitee«, begann innerhalb der radikalen Linken eine breitere Debatte um die »Kommunisierung«. Diese spiegelte sich international in der Gründung neuer Gruppen und Zeitschriften wieder, etwa »Sic!« in Frankreich, »Endnotes« und »Commune« in Großbritannien und den USA, »Blaumachen« in Griechenland und – wenn auch in deutlicher Distanz zu TC und deren allzu voluntaristischen Thesen – »Kosmoprolet« in Deutschland.

Grundlage dieser Sichtweise stellt ausgerechnet die Schwäche der Bewegungen der Arbeiter*innen seit den 1970er Jahren dar. Hervorgerufen durch die »Restrukturierungen des Kapitals«, die jegliche Produktionsmacht der Beschäftigten gebrochen hätten, konstatierte etwa Léon de Mattis für die Redaktion von »Sic!« und unter tätiger Hilfe von »Théorie Communiste«, die aktuelle und zukünftige Dynamik bestehe »zum ersten Mal seit zwei Jahrhunderten einzig und allein im Rückgang der Macht der Arbeiterklasse«. Jede reformerische wie auch sozialistische Perspektive musste nach diesem Fatalismus als absurd erscheinen. Und so blieben weitgehend ziellose Aufstände und Riots die einzig übrig gebliebenen Mittel der Subalternen, wie etwa der US-amerikanische Literaturwissenschaftler und Star der Szene, Joshua Clover, in seinem Buch »Riot – Strike – Riot« nachzuweisen suchte.

Man mag es Dialektik oder einfach Unfug nennen: Ausgerechnet aus diesem düsteren Szenario nun soll nach dem Willen der zumeist mit akademischen Würden ausgezeichneten Theoretiker*innen der »Verein freier Menschen« hervorgehen, denn – auch hier vermisst man jede Art der Begründung – »jede Form von Sozialismus, jede Form des Übergangs, konzipiert als Zwischenphase vor dem Kommunismus, wird die Konterrevolution sein«, wie es in dem Manifest »Was ist die Kommunisierung?« heißt. Glaubt man »TC« hier, wird an die Stelle von Planung und Selbstorganisation der Produzent*innen ein chaotisches »Ende aller Vermittlung« und gar die »Abschaffung der Gesellschaft« – was immer man sich darunter auch vorstellen soll – treten, wie die Gruppe 2009 in gewohnt esoterischem Tonfall schrieb.

Voluntaristischer Aufstandskult

Den Kommunisierer*innen und ihrem geradezu hysterischen Aufstandskult gelingt es immerhin, gemeinsam mit den ihnen eng verbundenen Insurrektionalist*innen in verschiedenen europäischen Ländern für ihre schwarzen Blöcke auf Demonstrationen hunderte von Menschen zu mobilisieren. Sie stellen den revolutionären Flügel der Szene dar, während die vor allem im deutschsprachigen Raum überaus präsenten Anhänger*innen der »Keimform«-Theorie beziehungsweise des »Commonismus« mit ihrer Hoffnung auf eine Universalisierung der Gemeingüter wie etwa Open-Source-Software im Hier und Jetzt den evolutionären Flügel bilden. Und während das Bilderverbot für erstere eine unbedingte Pflichtübung bleibt, bringen die Commonisten eine möglichst »konkrete Utopie« ihrer »inklusiven Produktionsweise« unter die Leute, die vor allem in der zentralen Schrift »Kapitalismus aufheben« von Stefan Meretz und Simon Sutterlütti dargestellt ist. Das Zauberwort dabei heißt »Stigmergie«: Bei »absoluter Freiwilligkeit der Wahl der Tätigkeiten« zeigt jede Person, Gruppe oder Genossenschaft einfach ihr jeweiliges Bedürfnis an und findet andere, die dies zu erfüllen bereit sind; was natürlich nur funktioniert, wenn man gleichermaßen bereit ist, wiederum den Bedürfnissen anderer nachzukommen – und damit einfach die Warenproduktion überflüssig zu machen. »Stigmergie«, so das Autorenduo, bilde so »die Basis für ein emergentes kohärentes Gesamtergebnis in einer Gesellschaft, in der die Bedürfnisbefriedigung aller maximal ist.«

Dass das funktioniert, kann für eine hochgradig arbeitsteilige und komplexe Gesellschaft allerdings getrost bezweifelt werden: Was für eine Party, zu der der eine einen Kuchen beisteuert, die andere das Bier mitbringt und ein Dritter danach putzt, durchaus denkbar ist, muss etwa bei dem Bau von Krankenhäusern, der Ausbildung des Personals und der Versorgung mit Medikamenten samt Forschung sowie Abbau und Beschaffung dazu nötiger Materialien versagen. Und so werden diese »Gedankenkeime« vermutlich auch jenseits zirkulationsaffiner Hipster-Milieus und theoriemoden-begeisterter Linker kaum Wirkung entfalten – außer eventuell die, dass vernünftige Menschen, die mit solchen Gedanken in Berührung kommen, einen halbwegs funktionierenden Kapitalismus solchen Experimenten samt ihrer kaum zu kalkulierenden Kollateralschäden vorziehen dürften. Könnte der alte Engels noch ein Buch über diese neuen Kommunisten schreiben, trüge es vermutlich den Titel: »Von der Wissenschaft zur Dystopie«.

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