Der Zank um die Grundrechte

Die Kritik an Elon Musks Griff nach Twitter zeigt, dass die viel zitierten demokratischen Grundwerte zumindest in tonangebenden Redaktionen zum Teil schon Geschichte sind

  • Ralf Hutter
  • Lesedauer: 7 Min.
Elon Musk und Twitter: Will der selbstverliebte Raketenkapitän wirklich nur, dass alle frei kommunizieren können?
Elon Musk und Twitter: Will der selbstverliebte Raketenkapitän wirklich nur, dass alle frei kommunizieren können?

Irre: Da kündigt jemand an, sich in einflussreicher Position für Rede- und Meinungsfreiheit im Internet einzusetzen, und nicht nur in Deutschland hauen große Medien auf ihn ein. Moralismus und Selbstgerechtigkeit sind so diskursbeherrschend geworden, dass ein demokratisches Grundprinzip zum Abschuss freigegeben wird. Das zeigte sich kürzlich auch an der Berichterstattung zu Elon Musks Vorhaben, Twitter zu übernehmen und dort weniger zu zensieren. Da wurde als Kritikpunkt unter anderem angeführt: Die Vorstellungen eines reichen weißen Mannes in Sachen Meinungsfreiheit seien suspekt angesichts der Herabwürdigungen, die Minderheiten online wie offline immer wieder erfahren müssen. Zudem sei Musk ja ein großer Kapitalist mit wer-weiß-was für Plänen.

Wer eine Übernahme Twitters durch Musk aus Angst vor dem angekündigten Mehr an Redefreiheit ablehnt, hat schon mal zwei blinde Flecken. Erstens ist auf Twitter diese Freiheit auf skandalöse Weise eingeschränkt, zweitens beruht die Rede- und Meinungsfreiheit unserer Epoche auf dem kapitalistischen Impuls, althergebrachte Unfreiheiten einzuebnen.

Zensurskandale

Wer bisher nicht Twitter wegen seiner Zensurmaßnahmen kritisiert, hat wichtige Ereignisse auf der Plattform verpasst oder vergessen. Beim Thema Coronavirus hat die Beschneidung des gesellschaftlichen Diskurses nur ein neues Ausmaß erreicht. So konnten manche Tweets, die die von Regierungen behaupteten Vorteile der Corona-Impfungen in Frage stellten oder von Impfschäden sprachen, nicht weiterverbreitet, nicht einmal beantwortet werden – selbst wenn sie eine wissenschaftliche Studie oder eine Regierungsstellungnahme verlinkten, oder auch nur eine simple Frage beinhalteten.

Das soziale Netzwerk Facebook wird seit Januar sogar öffentlich vom renommierten Fachmagazin British Medical Journal angegangen. Die Zeitschrift hatte von Beginn an kritische Artikel über die Aussagekraft der Zulassungsstudien für die Corona-Impfstoffe von Pfizer/Biontech und Moderna veröffentlicht und einer davon wurde bei Facebook mit einem Warnhinweis sowie der Drohung versehen, wer so etwas wiederholt verlinke, laufe Gefahr, blockiert zu werden. Facebooks Schwester-Plattform Instagram blockierte im November 2021 die Erwähnung des Profils des wissenschaftlichen Cochrane-Netzwerks, das weltweites Ansehen genießt, weil es Standards für die Auswertung von medizinischen Studien gesetzt hat. Die Begründung lautete, Cochrane habe »wiederholt Inhalte veröffentlicht, die den Richtlinien zu falschen Inhalten zu COVID-19 oder Impfungen entgegenstehen«. All diese Zensurmaßnahmen sind wissenschaftsfeindlich.

Soziale Medien als Politikum

Der Verdacht liegt nahe, dass Twitter und Facebook Kritik an den Grundrechtsaussetzungen der letzten beiden Jahre sabotieren, weil sie von der offiziell verordneten Online-Kommunikation profitieren. Doch das Zensurproblem existiert auch unabhängig davon. So verhinderten beide Plattformen drei Wochen vor der letzten Präsidentschaftswahl in den USA 2020 die Verbreitung des Links zu einem Artikel der Zeitung »New York Post«. Dieser legte auf Basis von alten E-Mails von Hunter Biden, Sohn des heutigen Präsidenten Joe Biden, nahe, dass Hunter einen lukrativen Posten bei einer ukrainischen Energiefirma nur erhalten hatte, damit sich sein Vater, damals US-Vizepräsident, im Sinne dieser Firma bei der ukrainischen Regierung einsetzte – was Joe Biden dann auch tat, ob nun absichtlich oder nicht. Twitter-Chef Jack Dorsey bezeichnete diese Zensur mehr als einen Monat später – also nach der Präsidentschaftswahl – als Fehler. Seine Plattform hatte das Profil der »New York Post« zwei Wochen lang inaktiviert. 2019 war Twitter-Zensur sogar Thema im Deutschen Bundestag. Im Vorfeld der Wahlen zum EU-Parlament hatte die Plattform Richtlinien gegen politische Fehlinformationen veröffentlicht und dann ohne Sinn und Verstand Tweets blockiert. Hier traf es unter anderem SPD-Politiker*innen und die Zeitung »Jüdische Allgemeine«.

Elon Musks Kritik an Zensur auf Twitter ist also geradezu geboten. Seine Vorstellungen von (Meinungs-)Freiheit als Ausdruck einer kapitalistischen Mentalität zu kritisieren, ist hingegen fehl am Platz. Der Kapitalismus hat aufgrund unser aller Gleichheit vor Geld und Ware die Basis für das moderne Verständnis von Grundrechten gelegt. Der Liberalismus ist das dazugehörige Gedankengebäude, das sich aber von seiner kapitalistischen Grundlage verselbstständigt und eine Verallgemeinerung von Grundrechten ermöglicht hat. Er hat ein Eigenleben entwickelt, wie es bei politischen Ideen immer wieder passiert. Und er ist oft nützlich gegen bestehende Unfreiheiten.

Wenn zum Beispiel, wie in den USA, wirtschaftsliberale Einrichtungen seit 2020 große Mengen an Daten und Studien zu den Themen Coronavirus und Coronapolitik zusammentragen, die gegen Grundrechtsstreichungen und direkten oder indirekten Impfzwang sprechen, dann sollten diese Daten nicht aus (antikapitalistischem) Prinzip beiseite geschoben werden. Im Gegenteil, gerade in Deutschland, wo die Regierung die Erfolge und Misserfolge der schlimmen Grundrechtsaussetzungen nach wie vor nicht evaluiert hat, sind wir auf solche Beiträge sogar angewiesen.

Machtmittel der kleinen Leute?

Wenn Kapitalisten sich für Meinungsfreiheit einsetzen, ohne Faschisten das Wort zu reden, dann ist das unterstützenswert, denn es gibt auch welche, die dem entgegenstehen, und die haben dabei die Unterstützung von mächtigen Regierungen. Das Internet ist wohl, gerade seit der starken Verbreitung von Online-Videos (denken wir nur an Polizeimorde), die größte Waffe, die die kleinen Leute jemals in der Menschheitsgeschichte hatten. Deshalb läuft nun der Gegenangriff. Die gesellschaftlichen Diskurse sollen eingehegt, unliebsame Akteure als unglaubwürdig gebrandmarkt werden.

Erwähnenswert ist da die US-amerikanische Firma Newsguard (übersetzt: Nachrichtenwächter), die mittlerweile auch in Deutschland aktiv ist. Ihr Geschäftsmodell ist es, »Mediensteckbriefe« zu erstellen, die sie etwa an im Internet aktive Firmen, Werbeagenturen und Bildungseinrichtungen verkauft. Dafür bewertet sie nach journalistischen Kriterien die Berichterstattung von Medien und gibt ihnen eine Punktzahl, die ihre Glaubwürdigkeit – im Internet eine sehr wichtige Währung – beziffern soll. Wenn die Kriterien und ihre Anwendung transparent sind, hat so ein Ansatz etwas für sich. Wie schlecht erfunden wirkt allerdings der 19-köpfige Beirat der Firma. Sechs der Mitglieder übten früher eine der folgenden Funktionen aus: Chef der US-Geheimdienste NSA und CIA; US-Minister für »Heimatschutz«; PR-Stratege beziehungsweise Redenschreiberin der US-Regierung; Nato-Generalsekretär. Solche Leute wachen nun über den Journalismus und helfen mit, Online-Medien durch eine Punktwertung Wahrnehmbarkeit zu nehmen oder zu geben.

Die aktuelle Entwicklung, für die gerade auch Newsguard steht, kann mit einer historisch-materialistischen Analyse erklärt werden. Die bürgerliche Gesellschaft war von Beginn an ein Massenbetrug. Ihr verbaler Universalismus war zunächst gar keiner, denn die Grundrechte sollten nur für wohlhabende weiße Männer gelten. Meinungs- und die darauf beruhende Pressefreiheit konnten formal mehr oder weniger allgemein gewährt werden, denn den meisten Menschen – nämlich denen ohne Medienproduktionsmittel – brachten sie kaum einen Machtzuwachs. »Pressefreiheit ist die Freiheit von 200 reichen Leuten, ihre Meinung zu verbreiten«, hielt denn auch Paul Sethe mal fest, einer der Gründungsherausgeber der »Frankfurter Allgemeinen«. Heute hingegen kann im Prinzip jeder Mensch mit ziemlich wenig Startkapital Texte, Audio- und Video-Inhalte im Internet veröffentlichen. Zudem erleichtert die allgemeine Digitalisierung den Zugang zu Quellen, etwa Behördendokumenten, stark und birgt somit ein neues kritisches Potenzial, wie sich besonders bezüglich der stark umstrittenen Coronapolitik zeigt. Diese Ermächtigung der Massen muss vielen Mächtigen in Wirtschaft und Politik gegen den Strich gehen. Zum allgemeinen Grundrechtsabbau vor allem durch sogenannte »Anti-Terror-Gesetze« kommt nun der Angriff auf den breiten gesellschaftlichen Diskurs im Internet. Wer immer noch meint, dass Pressefreiheit in den hyperkapitalistischen Ländern ein hohes Gut ist, sollte sich mal näher mit dem Fall Julian Assange beschäftigen, oder schlicht mit den Äußerungen dazu von Nils Melzer, dem ehemaligen UN-Sonderberichterstatter für Folter.

Gesetzlicher Sonderstatus

Wer Online-Beleidigungen und -Bedrohungen bekämpfen will, sollte sich dafür einsetzen, dass auch im Internet die normale Gesetzeslage durchgesetzt wird. Die großen Plattformen genießen da schon immer einen skandalösen Sonderstatus. Medienhäuser moderieren Kommentare unter ihren Online-Artikeln, weil sie für illegale Äußerungen haftbar sind, wodurch nachts oft nichts gepostet werden kann, und jeder, der einen Internetauftritt betreibt, muss eine gerichtlich ladungsfähige Adresse angeben. Für Facebook und Twitter gelten diese Regeln nicht so direkt oder erst seit ein paar Jahren. Erst jetzt wird auf EU-Ebene ein Gesetzespaket erarbeitet, das die Plattformen zwingen soll, seit vielen Jahrzehnten geltendes Recht einzuhalten.

Eigentlich ist es einfach: Was offline erlaubt ist, muss auch online erlaubt sein. Etliche große Medien verzichten aber darauf, die Durchsetzung aller Grundrechte auch im Internet zu fordern. Sie sehen lieber die Redefreiheit eingeschränkt, wie die Hetze gegen Elon Musk zeigt. Bei ihnen herrschen nicht mehr die viel zitierten demokratischen Grundwerte, sondern Hysterie.

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