Hilfen verpuffen

Armut in Deutschland nach Angaben des Paritätischen auf Höchststand

Die Einmalzahlungen der Bundesregierung verpuffen durch die Preissteigerungen.
Die Einmalzahlungen der Bundesregierung verpuffen durch die Preissteigerungen.

»Ich habe immer das billigste Öl für 99 Cent gekauft, das ich für die Küche brauche. Jetzt
kostet es 5,99 Euro. Es zieht mich richtig runter. Ich habe mir nie viel leisten können, aber wenn ich jetzt in die Geschäfte gehe, dann kann ich nur mit dem Kopf schütteln«, wird eine Frau im aktuellen Armutsbericht des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes zitiert. Die Armutsgefährdungsquote erreichte dem Bericht zufolge im vergangenen Jahr mit 16,6 Prozent einen neuen Höchststand. Die Quote gibt den Anteil der Bevölkerung an, dem weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens zur Verfügung steht. 13,8 Millionen Menschen in Deutschland leben demnach unterhalb der Armutsgrenze – 600 000 mehr als vor der Pandemie. 

»Die Befunde sind erschütternd, die wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie schlagen inzwischen voll durch. Noch nie wurde auf Basis des amtlichen Mikrozensus ein höherer Wert gemessen, und noch nie hat sich die Armut in jüngerer Zeit so rasant ausgebreitet wie während der Pandemie«, erläutert Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbands, die Ergebnisse am Mittwoch in Berlin. Während 2020 noch die verschiedenen Schutzschilde und Sofortmaßnahmen der Bundesregierung und der Länder dafür sorgten, dass die Armut trotz des wirtschaftlichen Einbruchs und des rapiden Anstiegs der Arbeitslosigkeit nur relativ moderat anstieg, seien die wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie 2021 offenbar voll auf die Armutsentwicklung durchgeschlagen, so die Ergebnisse der Studie.

Frauen sind demnach weit häufiger von Armut betroffen als Männer. Auch Haushalte mit drei oder mehr Kindern müssen überdurchschnittlich oft in Armut leben. Alleinerziehende sind mit über 40 Prozent die Gruppe, die am häufigsten von Armut betroffen ist. Auch Erwerbslose sowie Menschen mit niedrigem formalen Bildungsniveau sind viel öfter als andere Menschen arm. Das gilt auch für Menschen mit Migrationshintergrund und ohne deutsche Staatsangehörigkeit. Mit einer Armutsquote von 25,5 Prozent sind junge Erwachsene zwischen 18 und 25 Jahren besonders oft von Armut betroffen. Aber auch fast 21 Prozent der Kinder und Jugendlichen leben in Armut – »ein trauriger Rekordwert«, so der Paritätische. 

Sprunghaft angestiegen sei auch die Altersarmutsquote. Im Jahr 2020 lag diese noch bei 16,3 Prozent, 2021 bei 17,4 Prozent. Auffallend sei laut Paritätischem ein »ungewöhnlicher Zuwachs der Armut unter Erwerbstätigen«, insbesondere bei Selbständigen (von 9 auf 13,1 Prozent). 

Bei einem Vergleich der Bundesländer heben sich Bayern, Baden-Württemberg, Brandenburg und Schleswig-Holstein positiv ab, während fünf Bundesländer mit überdurchschnittlich hohen Armutsquoten auffallen: Nordrhein-Westfalen, Thüringen, Sachsen-Anhalt, Berlin und als Schlusslicht, wie auch in den vergangenen Jahren, Bremen. Dort leben 28 Prozent der Menschen in Armut. Der Paritätische Wohlfahrtsverband rechnet angesichts der aktuellen Preissteigerungen mit einer weiteren Verschärfung der Lage. Im Juni sind die Verbraucherpreise um 7,6 Prozent im Vergleich zum Vorjahresmonat gestiegen, teilte das Statistische Bundesamt am Mittwoch mit. Im Mai waren es sogar 7,9 Prozent. Auch der im Oktober auf 12 Euro ansteigende Mindestlohn wird dem Paritätischen zufolge voraussichtlich nur einen »sehr begrenzten Einfluss auf die Armutsentwicklung haben«. 

Der Verband fordert von der Bundesregierung, umgehend ein weiteres Entlastungspaket auf den Weg zu bringen. Grundsicherung, Wohngeld und Bafög seien bedarfsgerecht anzuheben und deutlich auszuweiten, um zielgerichtet und wirksam Hilfe für einkommensarme Haushalte zu gewährleisten. Die bisherigen Entlastungspakete zur Abfederung der Inflation kritisiert der Verband als ungerecht und unzureichend. 

Beim jüngsten Entlastungspaket seien laut dem Paritätischen nur 2 Milliarden des insgesamt 29 Milliarden Euro schweren Pakets als gezielte Hilfen ausschließlich einkommensarmen Menschen zugekommen. Zudem würden die Einmalzahlungen durch die Inflation »aufgefressen«, noch bevor sie überhaupt ausgezahlt seien. »Pandemie und Inflation treffen eben nicht alle gleich. Wir haben keinerlei Verständnis dafür, wenn die Bundesregierung wie mit der Gießkanne übers Land zieht, Unterstützung dort leistet, wo sie überhaupt nicht gebraucht wird, und Hilfe dort nur völlig unzulänglich gestaltet, wo sie dringend erforderlich wäre«, kritisiert Schneider.

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