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Schreie in der Nacht

Typisch Sommer (6): Im hedonistischen Berlin ist Schlafen nicht so einfach, wenn man das Fenster offen lässt

  • Florian Schmid
  • Lesedauer: 3 Min.

Seit meine Freundin und ich Kinder haben und uns die isolationistischen Lebensumstände der Corona-Pandemie noch ein bisschen mehr in Richtung heteronormative Kleinfamilie geschubst haben, stehen wir morgens nicht nur spätestens um halb sieben auf, um die Kinder für Schule und Kita fertig zu machen, wir gehen auch selten nach 23 Uhr zu Bett. Wenn wir dann in unserer vor Sommerhitze brütenden Wohnung nachts die Fenster auflassen und nach Mitternacht langsam in eine Traumwelt eintauchen aus Kindergeburtstagen, den vor dem Einschlafen geschauten Serien, dazu eine Handvoll dystopischer politischer Sorgen oder kämpferischer Utopien inklusive visueller Fetzen des großstädtischen Kiezgetümmels, fängt irgendwer draußen auf der Straße an, laut herumzuschreien. 

Und schon fahren wir aus dem Schlaf hoch. Da wir in einer innerstädtischen Zone voller Hipster, Bars und und gastronomischer Betriebe leben, Berlin für sein Nachtleben berühmt ist und unzählige Menschen von nah und fern dazu animiert, sich daran konstant zu erfreuen, sind vor allem die touristisch intensiven Sommermonate durchsetzt mit laut hinausgebrüllten Glücksrufen vor sich hin feiernder junger Menschen.

Manchmal sind es einzelne Rufe, wie ein Echo, die sich in unsere Träume schleichen und sich irgendwo in den Gebirgsschluchten der langsam einsetzenden REM-Schlafphasen einnisten, um Storytelling im Traum mitzugestalten. Oder es ist ein stakkatoartiges, sich langsam aufbäumendes Brüllen wie in einem Fußballstadion, erst eine Stimme, dann mehrere, und nicht selten folgt ein chorales Schreien, das sich in die Länge zieht und zu einer lärmenden Symphonie wird, um dann in grölendes Gelächter überzugehen. 

Inhaltlich ist meist überhaupt nichts zu verstehen, von dem, was da gebrüllt, geschrien, gekreischt, in den Nachthimmel gerufen und in die vor sich hin schlummernde Ruhe gerotzt wird. Manchmal glaube ich dann doch etwas zu verstehen, knete im Halbschlaf an einzelnen Begriffen herum, die sowieso keinen Sinn ergeben, und sinke dann wieder ganz kurz in meinen Tiefschlaf hinab, bis mich das nächste Grölen wieder aufweckt und zurück in die nächtliche Wohnung holt.

Wie spät ist es wohl? Während ich zum Handy greife, ertönt lautes Gekicher, jemand ruft »Hey!«, gefolgt von noch mehr Gelächter. Dann entfernen sich die Stimmen, ziehen wohl die Straße hinunter, werden kurz verschluckt und sind dann wieder einen Moment lang glasklar zu hören. Eigentlich sollte ich mich ja darüber ärgern, was ich manchmal auch tue. Ich muss schließlich morgen oder besser gesagt demnächst aufstehen. 

Unsere Kinder stehen vor allem wochenends pünktlich um sechs neben dem Bett und fordern unmissverständlich sofort einsetzende Care-Tätigkeit. Der Nervfaktor der nächtlichen Schreie hängt vor allem von der Dauer der Beschallung ab. Einer unserer Nachbarn brüllte immer wutentbrannt mit maximaler Lautstärke zurück, was aber meist noch anstrengender und verstörender war als die fast schon surreal anmutenden hedonistischen Rufe aus der urbanen Tiefe der Nacht. So nervig dieses nächtliche Brüllen und das gut gelaunte Gekreische auch sind und uns vom Schlafen abhalten – im Lauf des Sommers gewöhnen wir uns an daran. Es gehört einfach zu den Berliner Sommernächten.

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