Freie Straßen für befreite Menschen

Ein neues Manifest aus Berlin soll die Diskussion um das Zurückdrängen des Autos befeuern

  • Nicolas Šustr
  • Lesedauer: 4 Min.
Straßen zu Spielplätzen: Der Angsttraum der Autolobby
Straßen zu Spielplätzen: Der Angsttraum der Autolobby

»Wir haben einen ganz weiten Wurf gemacht. Daran kann man sich reiben und diskutieren«, sagt Simon Wöhr zu »nd«. Er meint das »Manifest der freien Straßen«, das sein Berliner Verein Paper Planes zusammen mit dem Wissenschaftszentrum Berlin und der Technischen Universität Berlin auf der Internetseite strassen-befreien.de veröffentlicht hat.

Das Manifest besteht aus sieben Thesen. Befreit werden sollen die Straßen vor allem von parkenden, aber auch fahrenden Autos. »Wenn man durch die Straßen geht in jeder deutschen Stadt, stehen dort Unmengen von Autos, die den Raum ineffizient nutzen«, sagt Simon Wöhr. »Dieser kommunale Raum wird durch Autos privatisiert und sehr, sehr günstig oder oft sogar gratis zur Verfügung gestellt.«

Seit Mitte des 20. Jahrhunderts habe der öffentliche Raum wegen der Massenmotorisierung und der modernen Trennung verschiedener Lebensbereiche einen enormen Bedeutungsverlust erfahren. »Es geht vorwiegend nur noch darum, ihn zu durchqueren und schnell von A nach B zu kommen«, heißt es in der ersten, der »Nachbarschaftsthese« des Manifests. Dafür gebe es gute Gründe: »Mit dem Siegeszug des Automobils fehlte einerseits der Platz, sich auf der Straße aufzuhalten, und andererseits verbargen sich Menschen von nun an hinter Glas und Metall.« Gefordert wird »im Sinne einer freien und vielfältigen Gesellschaft mit dem Manifest der freien Straße mehr Raum für alltägliche Begegnungen«. Die Überzeugung lautet: »Die von Autos befreite Straße fördert das nachbarschaftliche Zusammenleben.«

»Echte Freiheit beginnt jenseits unserer privaten Autos. Befreien wir uns von ihnen!«, heißt es in der »Mobilitätsthese«. Die Nutzung des Stadtraums als Parkplatz sei ein »fundamentales Missverständnis«. Erwartet wird, dass es »zeitweise immer Unverständnis, Ärger und auch Proteste« auf dem Weg dorthin geben wird. »Insellösungen« in einigen Quartieren würden nicht dauerhaft funktionieren, denn fallen in einem Kiez Parkplätze weg, wird der Nachbarkiez stärkeren Parkdruck zu spüren bekommen.

Stark zusammenhängend sind die Klima- und die Wirtschaftsthese. Denn dort werden Rohstoff-Raubbau und der enorme Ausstoß von Klimagasen im Zusammenhang mit dem motorisierten Individualverkehr thematisiert. Das ist auch der Grund, weswegen die Aktivistinnen und Aktivisten der »Letzten Generation« inzwischen wieder täglich in Berlin mit ihren Festklebe-Aktionen auf Straßenkreuzungen und Autobahn-Ausfahrten den Verkehr blockieren. Sehr zum Unmut von Innensenatorin Iris Spranger und der Regierenden Bürgermeister Franziska Giffey (beide SPD). Letztere erklärte am Dienstag, »dass es gar keinen Zweifel daran gibt, dass es sich um Straftaten handelt«. 73 Verfahren wegen Blockaden im Januar sind derzeit anhängig. Doch offenbar fehlen Angaben der Polizei, Generalstaatsanwältin Margarete Koppers habe der Polizei schon im Frühjahr mitgeteilt, wo Nachermittlungen nötig sind, sagte sie. »Über den Anfangsverdacht, die Notwendigkeit und Intensität von Ermittlungen sowie die Anklagereife entscheidet die Staatsanwaltschaft, und zwar nach Recht und Gesetz und nicht nach politischen Wunschvorstellungen«, unterstrich Koppers.

»Wir müssen auch Flächen entsiegeln, denn es wird immer heißer«, sagt Simon Wöhr. Die neuen Grünflächen können einerseits Wasser bei den häufiger vorkommenden Starkregenereignissen aufnehmen, durch die Verdunstung kühlen sie anschließend auch die Umgebung.

Die »Gesundheitsthese« zielt auf die körperliche Unversehrtheit, aber auch die Fitness der Menschen. Darauf haben Lärm, Abgase, aber auch Unfälle Einfluss. Ende Juni ist dieses Jahr in Berlin bereits das zweite Kind von einem Autofahrer getötet worden. Der Fünfjährige wurde beim Überqueren der Wichertstraße in Prenzlauer Berg vom Wagen erfasst und so schwer verletzt, dass er anschließend im Krankenhaus verstarb. Zwei Monate zuvor wurde eine Elfjährige in der Landsberger Allee von einem Raser getötet.

»Viele Menschen trauen sich auch gar nicht aufs Fahrrad. Für Kinder, Ältere und nicht so Mutige ist das keine Option, weil es ihnen zu Recht zu gefährlich erscheint«, so Aktivist Wöhr. Und stellt klar: »Wir sind nicht gegen den fließenden Verkehr, wenn er mit dem richtigen Verkehrsmittel unterwegs ist.« Für Lieferungen oder auch körperlich eingeschränkte Menschen soll es weiterhin die Möglichkeit geben, ein motorisiertes Gefährt zu nutzen.

»Um Straßen zu befreien, braucht es Pioniere«, lautet die Überschrift der »Beteiligungsthese«. Bewohner sollten unbedingt im Prozess mitgenommen werden. Denn die Pionierrolle mancher Kieze kann auch neue Probleme schaffen. »Die Freiheit, sich gefahrlos und dadurch entspannt auf den Straßen bewegen zu können, hat häufigere Ruhestörungen zur Folge – noch verstärkt wahrgenommen durch das fehlende Grundrauschen des Autoverkehrs«, heißt es im Manifest. Das erleben gerade die direkten Anwohner des Lausitzer Platzes in Kreuzberg.

»Konflikte müssen ausgehalten, Neues muss gewagt und manches auch wieder verworfen werden«, heißt es in der »Politikthese« in Richtung von Entscheidungsträgern und -trägerinnen. Kein Wunder, dass die einstige Friedrichshain-Kreuzberger Bürgermeisterin Monika Herrmann (Grüne) das Manifest bereits unterzeichnet hat und nun andere dazu ermutigt.

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