Der Wandel des »sexuellen Problems«

Der Neue Berliner Kunstverein zeigt eine Videoinstallation von Sharon Hayes über die Erfahrungen junger American-Football-Spielerinnen

  • Robin Becker
  • Lesedauer: 4 Min.
Ein Videostill aus der Installation »Ricerche: two« von Sharon Hayes, zu sehen im Neuen Berliner Kunstverein.
Ein Videostill aus der Installation »Ricerche: two« von Sharon Hayes, zu sehen im Neuen Berliner Kunstverein.

1963 reiste der italienische Filmregisseur Pier Paolo Pasolini über mehrere Monate durch Italien, um mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen verschiedener sozialer Klassen sowie unterschiedlicher geschlechtlicher und sexueller Identitäten über Liebe, Sexualität und das Geschlechterverhältnis zu sprechen. Mit dem daraus entstandenen Dokumentarfilm »Comizi d’amore« (dt. »Gastmahl der Liebe«) zeichnete Pasolini ein Bild der rigiden Sexualmoral des Landes in der Nachkriegszeit. Den Menschen stellte Pasolini einfache, teils bewusst naive Fragen, beispielsweise Kindern auf den Straßen von Rom und Palermo, wie Babys geboren würden.

Wie Pasolinis Film trägt auch die noch nicht abgeschlossene Werkreihe der US-amerikanischen Künstlerin Sharon Hayes den Titel »Ricerche«. Auch inhaltlich orientiert sich Hayes’ Arbeit an der Pasolinis: Ähnlich wie er möchte sie das »sexuelle Problem«, wie es Pasolini damals nannte, in den USA der Gegenwart untersuchen, damit jedoch eine zunächst auch gänzlich andere Realität als die in Italien in den 1960er Jahren. Die veränderte Wirklichkeit, auf die Hayes’ Werkreihe trifft, verdeutlicht bereits jene Frage Pasolinis, die auch Hayes zu Beginn von »Ricerche: one« fünf- bis achtjährigen Kindern auf der Family Week, dem weltweit größten Festival für LGBTQ-Familien in Provincetown, Massachusetts, stellt: »How are babies born?«

Liebe, Sexualität, geschlechtliche Identität und Gleichberechtigung sind auch die Themen, die die Videoinstallation »Ricerche: two« verhandelt, welche derzeit in einer Einzelausstellung der Künstlerin mit dem Titel »What Do We Want?« im Neuen Berliner Kunstverein zu sehen ist. Hayes, Professorin für bildende Kunst an der University of Pennsylvania, bezieht sich damit zwar thematisch auf Pasolini, führt in den einzelnen Arbeiten der »Ricerche«-Reihe die Gespräche jedoch mit spezifischen Gruppen, so in »Ricerche: two« mit 22 American-Football-Spielerinnen. Ohne Prolog oder Kommentar befragt Hayes die unterschiedlich alten, mehrheitlich schwarzen Frauen zu ihren persönlichen Erfahrungen im vielleicht am stärksten maskulin konnotierten Sport, zu ihren sowohl hetero- als auch homosexuellen Liebesbeziehungen, ihrem Verhältnis zu ihren Partnerinnen und Partnern, Eltern sowie Kindern – durch teils unbefangene und ironisch anmutende Fragen (»Does football makes you a better lover?«).

Auffallend ist die gemeinsame Erfahrung der Spielerinnen, aus der heraus sie den Sport betreiben: Weil ihnen in ihrer Kindheit und Jugend im Gegensatz zu Jungen und Männern bestimmte soziale Räume verschlossen blieben, betrachten sie den Sport auch als Form einer partiellen Aneignung eben jener Räume. Die meisten von ihnen begannen erst als Erwachsene, American Football zu spielen. Einigkeit unter ihnen herrscht deshalb auch insbesondere darüber, dass sie sich als Vorreiterinnen ihres Geschlechts verstehen.

»Ricerche: two« offenbart jedoch ebenso Brüche unter den Spielerinnen, beispielsweise wenn Hayes sie fragt, ob sie American Football eher als masochistischen oder sadomasochistischen Sport betrachten, ob sie sich durch den Sport weiblicher oder männlicher fühlen oder ihn ohnehin als geschlechtsneutral auffassen – und die Antworten hierauf durchaus divergent ausfallen. Überhaupt zeigt sich an den Äußerungen der Spielerinnen ihr äußerst heterogenes Verhältnis zum Feminismus, nach dem Hayes sie explizit fragt. So fühlen sich manche weitgehend unverbunden mit einer feministischen Bewegung, andere betrachten es bereits als feministisch, in der »Jungenfarbe« Blau zu spielen; wieder andere betreiben den Sport, weil sie nicht bloß als Sexobjekte wahrgenommen werden wollen oder verstehen ihn explizit als feministisches Projekt.

Diese Ambivalenzen und jene Solidarität untereinander sind es auch, die Hayes durch die Form der circa 40-minütigen 2-Kanal-Videoinstallation zu betonen scheinen möchte. Während auf einem Kanal immer die Spielerin zu sehen ist, die von Hayes interviewt wird, zeigt der andere Kanal Teile der restlichen Frauen und damit unmittelbar deren Reaktionen, die Hayes bewusst einsetzt, indem sie beide Kanäle zuweilen asynchron ablaufen lässt. Auch dadurch, dass sich die Kameraführungen auf den Kanälen teilweise unterscheiden – häufig ist nur eine in Bewegung, die andere still – erzeugt Hayes eine gewisse Hektik und Diskrepanz zwischen beiden Bildern, die die eigentliche Solidarität unter den Frauen immer auch als gebrochen darstellt. Selbst das Verhältnis einzelner Frauen zu sich selber erscheint mitunter brüchig, wenn diese aus verschiedenen Perspektiven auf beiden Kanälen zu sehen sind. Nicht zuletzt erzeugt auch die unmittelbare Aneinanderreihung der beiden Kanäle nebeneinander einen äußersten Bruch der Bilder, der sich unweigerlich mit dem, was zu sehen ist, verbindet und hierdurch sowohl der Darstellung als auch dem Dargestellten eine Mitte verweigert.

»Ricerche: two« konkretisiert nicht nur, wie das »sexuelle Problem«, von dem Pasolini sprach und auf das Hayes rekurriert, fortbesteht, sondern auch, wie sich dieses stets neu und in der Gegenwart anders darstellt. Indes dürfte die gesamte Werkreihe ähnlich motiviert sein wie der Film »Gastmahl der Liebe«: Durch die Einfachheit der Fragen wollte Pasolini die Aufklärung über die Widersprüche der Menschen zu sich selbst und die Entmystifizierung der Sexualität lancieren. Wenn auch Hayes’ Arbeit vielleicht nicht die Wirkung zu entfalten vermag, die Pasolinis Film noch immer zukommt, so fragt »Ricerche: two« nicht minder dringlich nach der Möglichkeit der filmischen Auseinandersetzung mit dem Geschlechterverhältnis heute und bezeugt damit auch die geschichtliche Veränderung und gesellschaftliche Stellung visueller Medien selbst.

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