Widerlichste Stereotype

Martin von Arndt über Antisemitismus in Deutschland und seinen Politthriller »Wie wir töten, wie wir sterben«

  • Leonhard F. Seidl
  • Lesedauer: 6 Min.
Zeichen setzen gegen Antisemitismus – mit Kippa.
Zeichen setzen gegen Antisemitismus – mit Kippa.

Herr von Arndt, ein heftiger Antisemitismusskandal überschattet die diesjährige Documenta. Ihr Kommentar dazu?

Interview

Martin von Arndt, 1968 als Sohn ungarischer Eltern geboren, lebt als Schriftsteller und Musiker bei Stuttgart und in Essen. Für sein literarisches Werk erhielt er zahlreiche Preise und Stipendien. Nach "Tage der Nemesis", "Rattenlinien" und "Sojus" erschien jetzt im Verlag Ars Vivendi der Thriller "Wie wir töten, wie wir sterben" (303 S., geb., 20 €), der zur Zeit des französischen Algerien-Krieges spielt. Die Hauptfigur, ein Holocaust-Überlebender und Mossad-Agent, soll in der Bundesrepublik einen ehemaligen KZ-Kommandanten aufspüren und nach Israel entführen. Mit dem Autor sprach Leonhard F. Seidl.

Ich habe es dieses Jahr nicht auf die Documenta geschafft, deshalb konnte ich mir kein eigenes Bild machen. Die Ausschnitte aus dem Banner des Kunstkollektivs Taring Padi, die ich medial aufbereitet gesehen habe, enthalten einige der widerlichsten antisemitischen Stereotype, denen ich bildkünstlerisch in den letzten Jahrzehnten begegnet bin. Es waren aber eben nur Ausschnitte. Um das Werk beurteilen zu können, braucht es den Gesamtkontext, der Auskunft darüber gibt, ob solche Stereotype beispielsweise zitiert und kritisch hinterfragt werden.

Und wie beurteilen Sie den Gesamtkontext?

In ihrem antikolonialen Anspruch ist Taring Padi dem Antisemitismus verfallen, statt, wie man vorhatte, auf die Verstrickung des israelischen Nachrichtendienstes Mossad in die indonesische Suharto-Diktatur hinzuweisen. Ich bin trotzdem skeptisch, ob das Abhängen des Banners der Weisheit letzter Schluss war. Man hätte sogar auf die Schnelle Infomaterial über das Werk bereitstellen können. Material, das die antisemitischen Ausfälle der Bildsprache thematisiert und sich gleichzeitig von ihnen distanziert. Dadurch hätte ein mündiges Publikum die Gelegenheit gehabt, sich selbst mit dem Thema auseinanderzusetzen. Was wir brauchen, ist mehr echte Debatte und weniger Empörungsspirale.

»Mit dem literarischen Kniff, an historischen Ereignissen zeitgenössische Probleme oder über die Geschichte hinweg bestehende Konflikte darzustellen, tritt von Arndt in die Fußstapfen großer deutscher Schriftsteller wie Schiller, Goethe, Brecht«, schrieb Gabriele Szczegulski in der »Bietigheimer Zeitung« zu ihrem Politthriller »Wie wir töten, wie wir sterben«. Was zeichnet für Sie gelungene »littérature engagée« im Sinne von Jean-Paul Sartre aus?

Mal abseits von Sartre bedeutet engagierte Literatur für mich, dass mein Schreiben über politische Themen wie Antikolonialismus oder Antisemitismus lebensweltlich nicht getrennt sein darf von meinem Engagement im Privatleben. Es war und ist mir immer wichtig, mich politisch – fernab von Parteien – zu engagieren, weil ich mich selbst als homo politicus wahrnehme.

Aber zu Sartre: Er fordert, dass Romane ihre Inhalte nicht allein über eine psychologische Ebene vermitteln, sondern immer eine Art politischer Ratio ansprechen. Ich teile diese Idee. Nichts langweilt mich beim Lesen mehr als ein Roman, der keinerlei sozialkritische oder politische Dimension besitzt. Das ist wie ein Scherenschnitt, der missraten ist, ein Körper ohne Kopf und Leben. Allerdings sagt Sartre auch, dass ästhetische Prinzipien die politisch eingreifende Wirkung eines Textes unterlaufen, und das weigere ich mich zu akzeptieren. Ich möchte akribisch gebaute, stilistisch gute politische Romane lesen, wie etwa »Der stille Amerikaner« von Graham Greene, eines meiner Lieblingsbücher. Und deshalb bemühe ich mich auch, stilistisch gute Romane zu schreiben.

Ihr Politthriller »Wie wir töten, wie wir sterben« spielt in der Bundesrepublik des Jahres 1961 in Bonn und im Ruhrgebiet. Einer der Protagonisten ist ein Überlebender des Holocaust. Vor welche Herausforderungen stellte Sie diese Perspektive?

Rosenberg ist ein sogenanntes »U-Boot«: Er taucht Anfang der 1940er Jahre in Berlin unter und zieht durch »sichere Häuser«, ist angewiesen auf Helfer*innen, die ihn auf Dachböden verstecken und von ihren Lebensmittelmarken mitversorgen. Auf diese Weise übersteht er zwar die Shoa, aber seine Familie wird in Majdanek ermordet. Und er wird von einem Überlebendentrauma paralysiert. Daran zerbrechen seine Ehe und seine berufliche Karriere. Als er in meinem Buch Anfang der 60er Jahre erstmals wieder zurückkehrt ins Land der Täter, bedeutet das die härtest mögliche Konfrontation mit seinem Trauma, an der er zu zerbrechen droht.

Das Thema Überlebendentrauma begleitet mich seit vielen Jahren, vor allem in meiner ehrenamtlichen Arbeit mit Geflüchteten. Auf den Anlass bezogen lässt sich das natürlich nicht vergleichen, aber die psychischen Auswirkungen sind ähnlich verheerend. Dadurch hatte ich das Gefühl, auf die »Fallberichte« von Holocaust-Überlebenden, die ich für die Recherche gelesen hatte, auf eigenartige Weise »vorbereitet« gewesen zu sein. Freilich bleibt es eine Perspektive, bei der man nicht der Hybris verfallen darf, zu glauben, das Sujet irgendwie »im Griff zu haben«. Es ist ein Schreiben auf Messers Schneide, bei dem permanent das Scheitern droht. In diesem Zusammenhang waren für mich die Informationen von Amcha Deutschland, einer NGO, die psychosoziale Hilfe für Überlebende des Holocaust und ihre Nachkommen leistet, eine ganz wichtige Unterstützung.

Wie sollte der Umgang mit Antisemitismus in der Öffentlichkeit sowie in Literatur und Kunst Ihres Erachtens erfolgen?

Eine jüdische Künstlerin sagte mir in einer Diskussion einmal zugespitzt: Eigentlich verbiete es sich für nichtjüdische deutsche Autor*innen schon aus Gründen der kulturellen Aneignung, den Holocaust aus jüdischer Perspektive zu thematisieren. Ich sehe das als Autor ein wenig anders, sonst hätte ich »Wie wir töten, wie wir sterben« gar nicht schreiben dürfen. Erst der Perspektivwechsel, der Versuch, sich auf eine andere Sicht einzulassen, ermöglicht es mir überhaupt, einen Umgang mit schwierigen Themen zu finden. Mit schwierigen Themen, die fester Bestandteil des kulturellen Gedächtnisses sein und bleiben müssen.

Leider verstellt die Art, wie Antisemitismus-Debatten in Deutschland jüngst oft geführt wurden, eine tiefgehendere Auseinandersetzung. Empörungsspiralen mögen zwar ein Beleg dafür sein, dass wir als Gesellschaft insgesamt sensibler geworden sind, auch für neuen und verdeckten Antisemitismus. Aber sie lenken leider öfter vom eigentlichen Thema ab und führen dann nirgendwohin.

Wie sollte denn Ihrer Ansicht nach eine konstruktive Auseinandersetzung aussehen?

Der Journalist Ze’ev Avrahami schrieb einmal sehr treffend: »Der Antisemitismus ist eine Psychose, das einzige Verbrechen auf Erden, bei dem der Attentäter sich selbst für das Opfer hält und meint, er müsse sich und die Welt vor dem Bösen retten – dem Bösen in Gestalt der Juden.« Dem Antisemitismus muss überall entschieden entgegengetreten werden, und ich glaube fest daran, dass Literatur hier eine »Avantgarde« sein kann. So, wie sie es von den 50ern bis in die 70er Jahre schon einmal war.

Leider spiegelt aber auch die Literaturszene immer die gesellschaftliche Entwicklung insgesamt wider, sodass es zunehmend zu verdeckten antisemitischen Zwischentönen in Büchern kommt. Man muss das klar benennen, muss es zurückweisen, darf den Narrativen des neuen Antisemitismus kein Podium bieten. Das bedeutet für mich beispielsweise auch: Wer die Politik einer rechtsgerichteten israelischen Regierung kritisieren möchte, sollte diese rechtsgerichtete israelische Regierung auch direkt adressieren und nicht pauschal urteilen über »den Staat Israel« oder, noch schlimmer, über »Israel«. Denn damit nimmt man auch die israelische Zivilgesellschaft in Sippenhaft, die nach meiner Erfahrung noch immer in weiten Teilen links oder linksliberal geprägt und selbst durchaus regierungskritisch ist.

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