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»Nehmt mich, entbeint mich«

Zynismus in der Literatur – kann er einen entfesselten Kapitalismus entlarven?

  • Björn Hayer
  • Lesedauer: 5 Min.
Subversive Konterbande oder entsorgte Literatur?
Subversive Konterbande oder entsorgte Literatur?

Wo es keine Badewannen mehr gibt, ist Vorsicht geboten. Denn sie »waren verschwunden, zusammen mit der Krankenversicherung, dem Arbeitslosengeld (…) Inzwischen standen die Leute frierend unter kaltem Wasser – oder hatten Waschbecken. Unbehaglich, aber gut fürs Klima.« Na dann, »Prost«, wie uns der ungreifbare und über allem schwebende Erzähler in Sibylle Bergs aktuellem Roman »RCE. #RemoteCodeExecution«, dem zweiten Teil einer opulenten Weltabrechnungstrilogie, zuruft. Um sich von diesem erbärmlichen Dasein abzulenken, bietet nur noch die Glotze Erheiterndes. Arme können sich dann über noch Ärmere in Wettkämpfen um Wohnungen im Reality-TV amüsieren.

Depressive Stimmung herrscht ebenso auf den Straßen der schönen neuen Welt vor: »Jedes Gesicht sagte: ›Ich habe aufgegeben, nehmt mich, entbeint mich.‹« Der Zynismus scheint in diesem Werk einen beklemmenden Höhepunkt zu erreichen und erweist sich überdies als Teil eines umfassenderen literarischen Zeitphänomens. Denn nicht nur die deutsch-schweizerische Autorin arbeitet all die Negativität unserer Gegenwart mit übelster Häme heraus. Auch andere Schriftstellerinnen bedienen sich ähnlicher Zugriffe.

In Nadja Niemeyers »Gegenangriff. Ein Pamphlet« etwa wird mit viel Elan und Pessimismus der Untergang der Menschheit durch den Feldzug der in Landwirtschaft und Industrie ausgebeuteten Tiere proklamiert. Damit die bald unter Hunger leidende Bevölkerung sich reduziert, ist in Indien die »Witwenverbrennung« wieder en vogue. China belohnt derweil jede Familie, die die Alten aus ihren Reihen um die Ecke bringt, mit einem Kilo Reis.

Unter derlei Umständen radikalisieren sich Figuren, wird das Hier und Heute konsequent auf ein unausweichliches Ende hin zugespitzt. Was die Romanciers dabei sichtlich antreibt, ist zuvördest schlicht und einfach Wut – insbesondere auf einen entfesselten Kapitalismus und dessen Auswirkungen auf den Klimawandel, die soziale Ungleichheit und eine zunehmend toxische Kommunikationskultur.

Dem Zynismus als stilistischer wie auch politischer Haltung wohnt dabei lediglich auf den ersten Blick Resignation inne. Wie Klaus Heinrich 1964 in seiner Studie »Das Argument« schreibt, steht »der Zyniker (…) in der Mitte zwischen dem Naiven, der die Drohung der Sinnlosigkeit noch nicht erfahren hat, und dem Protestierenden, der sie bekämpft.« Seit der Antike repräsentiert dieser Typus eine Weltanschauung. Zurückgehen soll sie mitunter auf den legendarisch verbürgten Diogenes von Sinope, der wegen seiner abgehalfterten Erscheinung als »Kyon«, also Hund, beschimpft wurde und dem »Kynismus« zu seinem Namen verhalf. Dem dekadenten Bürgertum Athens setzte er mit galligem Witz die Idee der völligen Autonomie gegenüber veralteten Werten und Strukturen entgegen. 

Der damit verbundene Relativismus verengte sich hingegen in der Moderne und diente einigen Theoretikern vor allem als Rahmung für eine entfremdete Ökonomie: »Da dem Geld nicht anzusehen ist«, schreibt Marx im »Kapital«, »was in es verwandelt ist, verwandelt sich alles, Ware oder nicht, in Geld. Die Zirkulation wird die große gesellschaftliche Retorte, worin alles hineinfliegt, um als Geldkristall wieder herauszukommen.«

Jean Baudrillard geht 1982 in »Der symbolische Tausch und der Tod« sogar noch einen Schritt weiter. Nicht nur höhlt das Geld den Dingen ihren Wert aus, vielmehr wird dem poststrukturalistischen Intellektuellen zufolge »der Referenzwert (…) abgeschafft und übrig bleibt allein der strukturale Wertzusammenhang«. Einzig dem Label, dem Zeichen kommt noch Bedeutung zu, unabhängig von der Arbeit und Leistung hinter dem Produkt.

Diese Verselbstständigung schlägt sich in Romanen der Gegenwart häufig in einem entgrenzten und enthemmten Medienkapitalismus nieder. Anschaulich wird dieser in Julia von Lucadous kongenialem Roman »Tick Tack«. Im Gegensatz etwa zu Berg und Niemeyer bezieht sie mit ihrer Erzählposition kaum Distanz zum Geschehen. Von Anfang an stecken wir in den Gedankengängen einer sich immer weiter extremistischen Positionen annähernden Jugendlichen fest. Mit zynischer Verve wettert sie gegen die Corona-Politik, die »Lügenpresse«, Merkels »Nanny-Staat« und »Quarantänelager nach dem Auschwitzprinzip«.

Jenseits dieser Polemik und literarisch überspitzt inszenierten Rasenmäherei steht der Einfluss der digitalen Medien auf die Antiheldin im Vordergrund. Bevor Mette den ultimativen Anschlag plant, buhlt sie – von der pöbelnden Netzgemeinde angefeuert – um Likes. Das Programm »TikTok ist ein organisches Add-on meines natürlichen Existenzmodus«, bekennt die Protagonistin, deren Präsenz kaum mehr von jenem virtuellen Raum getrennt ist, der von sehr spezifischen Macht- und Profitinteressen dominiert wird.

Die von Enttäuschung und Zorn getragene Perspektive, die Julia von Lucadou ihrer verblendeten Rebellin im Stil einer Persiflage zueignet, richtet sich wie auch in anderen Werken der zynischen Gegenwartsliteratur allem voran auf eine empfundene Irreversibilität aller Verhältnisse und eine vom Kapitalismus ruinierte demokratische Ordnung. Dass sich die Autorinnen dabei in der Tradition einer politischen Literatur sehen dürften, ist offensichtlich.

Allerdings meiden sie das Aufzeigen binärer Gegensätze. Denkt man etwas weiter zurück, nämlich an die Vormärz-Dichter wie Ludwig Börne oder Heinrich Heine, so galt deren Anspruch dem gezielten Aufrütteln der Masse durch ein Schreiben im Zeichen der Agitation. Später, etwa in der proletarischen Literatur oder bei einem Bertolt Brecht, besann man sich häufig auf spezifische Gegner und versuchte die Leserschaft bzw. das Publikum mithilfe von Verfremdungseffekten selbst zum Nachdenken anzuregen. Nicht zu vergessen sind zudem die Literatinnen und Literaten der 68er, die bewusst gegen die Vätergeneration zu Felde zogen.

Statt jene Konfrontationen zu suchen, beschreiben die Schriftstellerinnen eher die Auswüchse und Effekte eines globalen Systems. Was sie eint, ohne sich auf bestimmte greifbare Feinde einzuschießen, lässt sich als das Prinzip der Abschreckung bezeichnen. Bedenkliche Entwicklungen werden konsequent antizipiert und bis zum Worst Case durchgespielt. Sie wollen uns das Schaudern lehren, sie wollen den totalen Schock! Es mag dabei kein Zufall sein, dass ein Großteil des zynischen Potenzials letztlich bei Autorinnen und weniger bei ihren männlichen Kollegen vorzufinden ist. Offenbar wirkt darin, so die Vermutung, der Feminismus infolge von #Metoo als umfassender politischer Impuls. Die Basis, die der Diskriminierung von Frauen zugrunde liegt – die chauvinistische Hegemonie –, scheint ebenso die Kräfte des Kapitalismus zu durchdringen. 

Während allerdings der klassische Zynismus auf einer Moralverachtung fußt, fordert der zeitgenössische implizit ein Bekenntnis zu einem festen Wertefundament ein. Ex negativo eben, aus den Energien der Enttäuschung und der Wut heraus. Eine ungeahnte Radikalität tritt damit zutage, nur nicht für die Ränder der Gesellschaft, sondern für demokratische Verantwortung und die Veränderbarkeit der Realität durch alle.

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